Architektur und Moral

„Störlesung“ im Bauernhaus, im Oberdorf von Rauris im Salzburger Land. Ein strahlend blauer Nachmittag. In dem Drei-Generationen-Haus – der Sohn und dessen Sohn holen mich mit dem Pick-up vom Hotel ab – erwarten den Autor 40 Gäste, ländliches Literaturpublikum. Wir sprechen über Heine, Trakl, Morgenstern, Fried. Die Bachmann. Gedichte also. Ich lese also aus den neuen Gedichten. Es gibt eine große Einfühlsamkeit. Das Marienantlitz an der Stubenwand hat die Tochter gemalt, die Enkelin, die Maria ähnelt. Es ist auch ein Selbstbildnis. Nach meiner Lesung setzt sie sich zu mir, offenherzig und zugleich verlegen – oder bescheiden – fragt sie nach meiner Arbeitsweise. Unser Gespräch dreht sich um Wirklichkeitsschau. Kann ich in einem Gedichtentwurf bannen, was mir wirklich erscheint – oder verfälsche ich das Erlebte, das Geschaute, indem ich meinen Entwurf nachträglich zu verbessern versuche? Sie ist 21. Sie hat drei Kinder. Die Kleinen toben durch die Stube voller Leute, die längst allen Kuchen verzehrt haben und sich über Gott und die Welt unterhalten. „Auf der Stör“ waren hier die Handwerker einst, so wie im Norddeutschen „auf der Walz“ – also ist meine Lesung eine Wanderlesung. (Singen, 7.4.)

OMD – Architecture and Morality

Wie es sich anfühlen mag, das Leben verbracht, ohne existiert zu haben, fragt Oswald Egger in seinen poetischen Aufzeichnungen vom Leben auf dem Land „Val di Non“. Die Frage erscheint mir absurd, irrig angesichts der Fülle aus Beobachtungen und Empfindungen, die Eggers Text ab- und durchaus hervorruft bei einem wie mir, mit einer im Ländlichen verbrachten Kindheit. Aber ich kann das Geschwafel von einer Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit nicht mehr ertragen. Wie soll ich denn existieren, wenn diese höhere Existenzform mein Leben – mein Empfinden, mein Denken, mein Leben – zu übersteigen hat? Ist damit eine unausgesprochene, eine unaussprechbare Transzendenz gemeint? Warum die auf Kosten eines Lebens und als unmöglich postulieren? Colm Tóibíns Schilderung Minny Temples, der jung verstorbenen Cousine Henry James’, die dem Romancier zeitlebens als menschlicher Maßstab gegenwärtig blieb, lese ich im Roman „The Master“ („Porträt des Meisters in mittleren Jahren“, übersetzt von Giovanni und Ditte Bandini) als eine poetische Antwort: „Henry fragte sich außerdem, was das Leben für sie bereitgehalten hätte und wie ihre erlesene Fähigkeit zum Widerstand mit einer Welt hätte fertig werden können, die unweigerlich versucht hätte, sie in ihre Schranken zu weisen. Es war ihm zumindest ein Trost, daß er sie so gekannt hatte, wie es der Welt nicht vergönnt gewesen war, und daß der Schmerz, ohne sie leben zu müssen, nicht mehr als ein Bußgeld war, das er für das Privileg zahlte, zusammen mit ihr jung gewesen zu sein. Was einmal Leben war, dachte er, ist immer Leben, und er wußte, daß ihr Bild fortan über seinem Geist walten würde als eine Art Maßstab und Norm von Klarheit und Gelassenheit.“

Mit der Dunkelheit kam der schwere, erdige Geruch des frischen Frühlings. Er stieg aus den wenigen unbebauten Flächen in der Innenstadt und strömte einem in die Nase wie die Erdbeerdünste einer Erdbeerkonfitürefabrik. Am Tag tschilpten die Vögel, die Singvögel von Singen sangen, doch sobald über dem Fußballplatz das Flutlicht leuchtete, verstummten sie und stieg aus dem auf einmal wieder grünen Boden der Duft. (Singen, 9.4.)