Das Lied der Schakale

Zu Gottfried Benns lyrischen Fragmenten

Vor einigen Jahren wurde ich eingeladen, unter der Überschrift „Benn beenden“ ein paar Gedichte beizusteuern, die lyrische Fragmente Gottfried Benns fortführen. Der Text sollte das Aufgegebene aufgreifen, es weiterspinnen und somit aus dem Bruchstück ein eigenes, neues, ganzes Gedicht zu formen versuchen.
Mein erster Ansatz zielte auf Imitation. Um mich auf Benns Klang einzustimmen, „das Raffinierte und das Sakrale des Reims“, der „auf jeden Fall ein Ordnungsprinzip und eine Kontrolle innerhalb des Gedichts“ sei, wie er 1951 in „Probleme der Lyrik“ sagte, nahm ich zwei dreizeilige Strophen und einen einzeln stehenden Vers („gut, reisse dir die Flanken auf“) aus den Fragmenten der Jahre 1952/1953 und klebte diese kleineren und größeren Scherben ein in ein fünfstrophiges, mit Kreuzreim versehenes Gedichtmosaik aus zwanzig Zeilen. Die kursiv gesetzten Teile von „Nimm Margeriten“ stammen von Gottfried Benn:

Du willst noch Ziel, Du willst noch Glück,
mein armseliger Basaltschmarotzer?
Du hast nichts als Dein Kleidungsstück

und mimst den Lava-Magma-Protzer.

Du formst wohl besser Krustengärten
und so Gebüsch für üppige kurze Blüten.
Was schnell erblüht
, hat seine Härten,
hat tiefe Farben. Nimm die Margeriten.

Erkaltetes Ergussgestein …
gut, reisse Dir die Flanken auf,
Basalts Tektonik wird dort sein,
versteint im Weltalldauerlauf,

und Feldspat, Olivin, Augit …
Gemenge schiebt ganz Island da
zu Hochland auf im Dillgebiet,
zum Vogelsberg, Vulkan am Paraná.

Du bildest besser karge Gärten
für Riffe blasser stummeliger Blüten.
Nur was rasch blüht, hat Härten,
ein tiefes Weiß. Nimm Margeriten.

Meine Benn-Ausgabe verzeichnet Fragmente von 1930 bis 1955, rund zwanzig Seiten an Versen, Strophen und abgebrochenen Sätzen aus nie geschriebenen Gedichten. Eine Handvoll dieser Fragmente ist mir lieb und teuer; sobald ich sie lese, sprechen sie mich unmittelbar an, so eine Strophe von 1953, deren erste Zeile ich meinem Band „Die Republik der Silberfische“ (2008) als Motto vorangestellt habe:

Ein Tag ohne Tränen ist ein Zufall
eine Gedankenlosigkeit
schon eine Manie

Andere Bruchstücke aus diesem über fünfundzwanzig Jahre hinweg angesammelten Archiv der Unmöglichkeiten sagte ich mir auf der Suche nach einer Gelegenheit, darin einzuhaken, während Spaziergängen immer wieder vor: „mich interessiert das Interessante nicht / ich bin mir selbst das einzige Gewicht“, oder:

Die Stimme, die mich riefe
ist nicht mehr aufgewacht
im Schweigen kommt der tiefe
Blumengeruch der Nacht.

Eine seltsame Handgreiflichkeit wohnt vielen der kleinen Textschnipsel inne. „Ach es ist ja keine Dichtung / in welchen Graden der Vernichtung / man die Dinge sieht“, heißt es unter „1930/1933“ (was immer dieser Schrägstrich bedeuten mag), und zwanzig Jahre später, ein Vers, wie ihn nur er schrieb, so lakonisch und lebenssatt, so jedem Hang zum Apodiktischen müde, dass die zwei Zeilen von Brecht nicht sein können:

u dann ist es vorbei, das ganze Leben ist vorüber-
gegangen wie ein Nachmittag

Man hört den Jambus ticken, hört ihn aussetzen nach dem „vorüber-“, sieht geradezu die Pendeluhr in dem Zimmer, in dem einer sein „Aprèslude“ komponiert. Auffällig, wie Benn schon in den Fragmenten, die ja unbereinigte, noch nicht polierte Gedichtkerne sind, Klang und Bild koppelt, und das in oft nur wenigen, nicht selten lediglich zwei Wörtern.
„winterblau, löwenfarben“ lautet so ein Bruchstück, dessen Daktylus sofort einen fallenden Raum eröffnet, in dem, verwunderlich, jedoch ganz sinnliche Eindrücke warten. Man hört den Reim, obwohl er unsichtbar bleibt, spürt die gedrängte Kürze des ungeschriebenen Gedichts, dem in der Bläue des Winters, fauchend mit letzter Kraft, nur wenig zu sagen bleibt. Nichts anderes als einen Abgesang konnten die beiden Wörter einläuten, und so schrieb ich irgendwann, nun Benns Tonfall übertragend auf meinen eigenen Alltag, „Letzte Datei“:

Winterblau, löwenfarben
zittert der Kalenderrest
schnell, schnell.

Br … Möwenraben
hacken in den Schnee
ihr simples html.

„Ein Volk, das untergeht / muss Lieder spielen –“ lautet ein weiteres Fragment, für das ich mich entschied, wenngleich aus anderen Gründen; es stammt nicht, wie man vermuten würde, aus den 1930er oder 1940er Jahren, sondern, wie auch die „winterblau“-Notiz, von 1952/53.
Aus der Adenauer-Ära tänzelt der Jambus daher, das aber so zynisch-brachial, dass Benn vielleicht deshalb das misslungene Ding lieber liegen ließ. 1956, acht Jahre nach Aufhebung seines Veröffentlichungsverbots, wurde er siebzig. Man lud ihn ins damals noch fortschrittlich-exklusive Fernsehen ein, und in einer frühen Talkshow oder Gesprächsrunde beantwortete er neun Minuten lang Fragen des servilen Moderators zu seiner Poetologie. Gebeten, einen Lieblingsdichter zu nennen, sagte Benn mit süßem Flöten in der Stimme, er liebe die Gedichte von „Dülan Tomas“. Ich sah die Sendung vor bestimmt zwanzig Jahren, an viel mehr erinnere ich mich daher nicht, doch der Klang von Benns Stimme und sein Versuch, sich in Dylan Thomas einzufühlen, nur indem er voller Liebreiz flötend den Namen des walisischen Dichters aussprach, der sich drei Jahre zuvor zu Tode gesoffen hatte, ist mir bis heute im Gedächtnis geblieben.
Ich kann Herrn Dr. Benn daher vieles nachsehen. Selbst in seinen hinterlassenen Fragmenten scheint er mir immer ein Momentmusiker gewesen zu sein, den der Klang der Wörter in verzückenden Reichtum versetzt, auch wenn er sich für meine Begriffe zu oft hinreißen ließ zu großen Begriffen und wenn er darüber vergaß, dass es so etwas wie „Volk“ gar nicht gibt, geschweige denn untergehende, ja zu ihrem Untergang singende Völker. Welche Nation hätte je Lieder gespielt. Möglich wäre dies nur in einer Massenveranstaltung kolossalen Ausmaßes, eine schaurige Vorstellung, die wohl tatsächlich „das Hervortreten eines neuen biologischen Typs“ voraussetzt, wie Benn ihn 1933 prognostizierte. „Ein Volk will sich züchten“, sagte er seinerzeit. „Ein Volk, das untergeht / muss Lieder spielen“ – was dieses Volk nicht alles will und muss. Es ist eine Leerstelle, dieses „Volk“, und wohl deshalb ist Benns zynische Notiz kaum mehr als hohles Versgeklingel.
„Das Sakramentale – / schön, wer es hört und sieht, / doch Hunde, Schakale / die haben auch ihr Lied“, heißt es in „Eure Etüden“. Benn wusste sehr wohl um die Mannigfaltigkeit der Gesänge. Wie wusste er da nicht, dass entweder gilt, „es sind / noch Lieder zu singen jenseits / der Menschen“, wie Paul Celan schrieb, oder aber „Lieder der Zukunft / jenseits der Unzeit“, „doch nicht ein einziges Lied / jenseits der Menschen“, wie Erich Fried widersprach.
Ob diesseits oder jenseits, zum Gesang braucht es den Singenden. Schwer vorstellbar, Benn, der nicht weiß, dass Lied gleichbedeutend ist mit Atem, mit Einem, der singt, ob allein, aus Furcht, oder, gemeinsam mit Anderen, in Chören. Jedes Lied ist Ausdruck der Liebe zum Leben und singt an gegen die Atemlosigkeit im Reich des Todes. Benn dürfte das auch bei dem letzten Barden, bei Dylan Thomas gehört haben: „Werden Liebende untergehen, die Liebe wird’s nicht; / Und der Tod wird kein Reich haben.“
Um Benns Volksvers zurückzuholen in den Mundraum und damit auch den Rachen eines Einzelnen, schrieb ich mein Gedicht „Grippewelle“:

Im Hafenbecken brennt
ein Stückgutfrachter,
und die Crew,
die keiner kennt,
die singt.
Was Wunder, du,
was Wunder, wenn
auf der Mole der Beobachter
Herr Dr. Benn
so nihilistisch klingt:
Ein Volk, das untergeht,
muss Lieder spielen –

Tatsächlich? Spät!
Ein ganzer Chor versinkt.
Gesangslaufbahnen scheitern.
Kein Taschentuch, das winkt,
weil alle Nasennebenhöhlen
röcheln und vereitern.

Unveröffentlicht. Die Benn-Bearbeitungen erschienen in:
„Benn beenden. 22 Dichter vollenden Fragmente von Gottfried Benn“
Volltext – Zeitung für Literatur, 2/2006, Wien
Mirko Bonné © 2010