Nebel

Der Himmel über der Antarktis war weiß. Die Berge der Inseln, das Wasser, die Luft, alles weiß. Nebeltage im Eismeer. In der Elsehul Bucht der Insel Südgeorgien sah ich Robbenkolonien. Wie sie da zu Tausenden auf den Steinstränden dösten, umgeben von Eselspinguinen und See-Elefanten, stand neben mir an der Reling der Schiffsmeteorologe und erzählte, oft schon habe er sich vorgestellt, eine Ohrenrobbe zu sein, die durch dies türkisblaue Wasser gaukelt, nicht anders als ein Grünfink an einem Sommertag durch die blaue Luft.
„Denn wissen Sie“, sagte er, „Eisschollen und Eisberge, die im Wasser treiben, sehen von unten genauso aus wie für uns die Wolken am Himmel.“
Wolken, Dunst und Nebel, meteorologisch betrachtet seien sie so ziemlich dasselbe, Kondensationsphänomene. Dunst und Nebel würden sich durch die Sichtweite unterscheiden: Zwischen einem und vier Kilometern spreche man von Dunst, bei unter einem Kilometer herrsche Nebel, leichter bis dichter, Nebel in Abstufungen.
Wohingegen man Wolken auch Luftnebelbänke nennen könne. Denn Wolken seien nichts anderes als Nebel, der keine Bodenhaftung habe. Nebel sei demzufolge der landläufige Ausdruck für Bodenwolken, Erdwolken, Eiswolken.
Mit Anorak, Mütze und gefrorenem Bart ähnelte dieser melancholische Wetterforscher tatsächlich einer Robbe.
„Wissen Sie“, fragte ich ihn, „dass das deutsche Wort ‚Nebel’ vom griechischen für ‚Wolke’ abstammt?“
„‚Nephele’, sagte er, „richtig. Auf Latein wurde ‚nebula’ daraus und althochdeutsch ‚nebul’.“
Der Blick hinüber zur Elsehul Bucht und unsere kleine Unterhaltung über Kondensationsphänomene schienen ihn zu bekümmern. Ein Positivist war er nicht. Seine Augen funkelten glasig und sahen traurig aus, und ich merkte, wie sich zwischen uns eine Art verbaler Nebelbank breitmachte. Wenn es Winter werde in der Antarktis, wenn das Meer allmählich gefriere, sagte er, dann stelle er sich das für eine Robbe in etwa so vor, als würde sich unsere Welt mit einem Nebel bedecken, der sich nicht mehr auflöse – eine Nebelwelt.
Dieses nebulöse Gespräch gab mir zu denken. Ich versuchte mich zu erinnern, wann ich zuletzt dichten Nebel erlebt hatte. Zwei Monate zuvor und 20.000 Kilometer weiter nördlich war ich an der finnisch-russischen Grenze unterwegs. Vom karelischen Petrosawodsk aus unternahm ich Streifzüge durch nicht endende Birkenmoore zu Ufern von Seen, die grau und verlassen unter einem weißen, vom Schornsteinqualm der Zellulosefabriken mit Schlieren überzogenen Himmel lagen. Nebel hing in den Wäldern und über den Seen. Vor den Fenstern einer mittelalterlichen Holzkirche war er so dicht, dass man meinen konnte, draußen liege meterhoch Schnee. Und auch durch die Straßen und verwaisten Parks der Stadt waberte ein Nebel, der ein blaues oder rotes Ungeheuer ausspie, wenn ein Trolleybus vorbeiwankte und man hinter beschlagenen Scheiben die Umrisse der Fahrgäste sah.
Und im Nebel überm antarktischen Eismeer dachte ich an Greifswald, wie ich es auf der Heimreise aus Russland erlebte: Der Bodden und das Flüsschen Ryck in tiefem Nebel. Die Bäume auf dem Küstensaum schienen aus dem Wasser zu wachsen. Was die weißliche Dunstglocke durchbrach, waren einzig die flatternden Trapeze der Krähen. So hatte vor 200 Jahren Caspar David Friedrich seine Geburtsstadt gemalt, in einem Nebel, der ihn sein Leben lang verfolgte: Das Flüsschen Ryck war zugefroren, als er als 13-Jähriger Schlittschuh laufen ging, im Eis einbrach und mit ansah, wie im Nebel sein Bruder, der ihn hatte retten wollen, ertrank.
Der Nebel der Antarktis war nicht dichter oder zaubrischer, nicht weißer oder vollkommener als in Karelien, an der Ostsee oder anderswo. Jeder Nebel weckt die gespenstische Vorstellung von einer Nebelwelt, einer Welt ohne Weite, ohne klare Konturen, blauen Himmel und Perspektive. Nebel wirft einen zurück auf die Undurchschaubarkeit, die Flüchtigkeit aller Erscheinungen, und seien es auch nur Kondensationsphänomene.
Nebel aber weckt auch die Verheißung: Wir leben nicht in einer Nebelwelt. Nach drei Tagen Fahrt durchs Nebelweiß der Antarktis riss der Himmel auf und zeigte sein strahlendes Blau. Über der offenen See sah ich die Wanderalbatrosse wieder dem Schiff folgen, Kapsturmvögel und Tafeleisberge.
„Schauen Sie“, sagte der Meteorologe, der sich zu mir an die Reling gesellte und dessen düstere Stimmung verflogen schien, „ein klarer Himmel. Heute Nacht werden wir das Kreuz des Südens und Alpha Centauri sehen!“

SWR2, Matinee „Vom Zauber der Unschärfe: Nebel-Leuchten“
10. Februar 2008. Mirko Bonné © 2008