Clapham Junction

Bewaffnet sind die Toten aus dem Grab gestiegen
Und flattern da in Wahrheit auch bloß Londoner Tauben
Die Zunge erkundet die Mundhöhle und weiß auf einmal
Die Jahreszeit des Kummers ist ein Vorstadtbahnhof

Und flattern da in Wahrheit auch bloß Londoner Tauben
Über Waggons voller Stahlschrott, Spänen und Schotter
Die Jahreszeit des Kummers ist ein Vorstadtbahnhof
In der so seltsam simplen Ökonomie der Welt

Über Waggons voller Stahlschrott, Spänen und Schotter
Die Lavendelhügel, die Lavendelfelder
In der so seltsam simplen Ökonomie der Welt
Spucken sie auf dich, Oscar, Ausgeburt allen Übels du

Die Lavendelhügel, die Lavendelfelder
Es war das reinste Gelage mit Panthern
Spucken sie auf dich, Oscar, Ausgeburt allen Übels du
Nimm es hin wie den ewigen Nebel und den Nieselregen

Es war das reinste Gelage mit Panthern
Die Zunge erkundet die Mundhöhle und weiß auf einmal
Nimm es hin wie den ewigen Nebel und den Nieselregen
Bewaffnet sind die Toten aus dem Grab gestiegen

Eisenbach

Wach auf, mein Herz, und weise wisse
Wir haben bei Weitem noch nicht alles geliebt
Denk nur an den Baum, der neben uns stand wie ein Lauschender
Der Sommer ein Jahr und die Glaswand nicht Glas

Wir haben bei Weitem noch nicht alles geliebt
Vergiss nicht, jede Uhr ist erfunden
Der Sommer ein Jahr und die Glaswand nicht Glas
1975 entdeckt man in China die Zärtlichkeit

Vergiss nicht, jede Uhr ist erfunden
Wie eine böse Knospe, in der eine furchtbare Blüte wartet
1975 entdeckt man in China die Zärtlichkeit
Als wäre es gestern gewesen, heute, jetzt

Wie eine böse Knospe, in der eine furchtbare Blüte wartet
Der Wind von den Sternen, die alle Sonnen sind
Als wäre es gestern gewesen, heute, jetzt
Scheuchen nachts Böen das Laternengelichter aus dem Kanal

Der Wind von den Sternen, die alle Sonnen sind
Denk nur an den Baum, der neben uns stand wie ein Lauschender
Scheuchen nachts Böen das Laternengelichter aus dem Kanal
Wach auf, mein Herz, und weise wisse

Calw

Da legt eine Prau an, im scheinbaren Wind aus nichts Segel
So klingt der süße Singsang von den allerschwersten Dingen
Piet gießt vor dem Laden um Mitternacht noch die Narzissen
Unverkäufliche Blumen schwimmen eine Woche im Brunnen

So klingt der süße Singsang von den allerschwersten Dingen
Fast schmeckt der Regen nach dem Wein in meinen Händen
Unverkäufliche Blumen schwimmen eine Woche im Brunnen
Zwei Absätze weiter unten in der Geschichte der Zerrüttung

Fast schmeckt der Regen nach dem Wein in meinen Händen
Wie Sparbücher voll Ziffern morgens die Fachwerkfassaden
Zwei Absätze weiter unten in der Geschichte der Zerrüttung
Ich wusste überhaupt nicht, dass ich vollkommen nackt bin

Wie Sparbücher voll Ziffern morgens die Fachwerkfassaden
Und der Marder im Dachstuhl entkommt durch die Träume
Ich wusste überhaupt nicht, dass ich vollkommen nackt bin
Während David Crosby auf dem Markt Wooden Ships singt

Und der Marder im Dachstuhl entkommt durch die Träume
Piet gießt vor dem Laden um Mitternacht noch die Narzissen
Während David Crosby auf dem Markt Wooden Ships singt
Da legt eine Prau an, im scheinbaren Wind aus nichts Segel

Nizza

Schon verlässt das Gedicht das Bleistiftstadium
Kaum dass ein Baum dort in der blauen Dünung treibt
Kein Kletterer im Berg kennt den Berg, aber du
Wie eine alte Seemöwe nachts bei Mistral

Kaum dass ein Baum dort in der blauen Dünung treibt
Klirren die Sternbilder, bis du dich in Bewegung setzt
Wie eine alte Seemöwe nachts bei Mistral
Nur ein Häufchen Kiesel und Zigarettenkippen

Klirren die Sternbilder, bis du dich in Bewegung setzt
Dann schreckt manchmal sogar ein Schatten zurück
Nur ein Häufchen Kiesel und Zigarettenkippen
Freude zu finden bleibt trotzdem der Sinn einer Passeggiata

Dann schreckt manchmal sogar ein Schatten zurück
Und sei er aus den verschwundenen Wäldern des Libanon
Freude zu finden bleibt trotzdem der Sinn einer Passeggiata
Bis die Wellenbrecher alles achtlos zertrümmern

Und sei er aus den verschwundenen Wäldern des Libanon
Kein Kletterer im Berg kennt den Berg, aber du
Bis die Wellenbrecher alles achtlos zertrümmern
Schon verlässt das Gedicht das Bleistiftstadium

Ein Glas Tränen

Trink das Glas, trink es und
Sommerwolken spiegeln sich.
Das Wasser fließt, ein Fließen

geht durch alle deine Jahre.
Grün der See, grün Seele.
Also fürchte dich nicht mehr,

die Sommerwolken spiegeln sich
auf Fluss und See. Im grünen Licht
trink aus dein Glas, trink es ganz leer.

2. Fassung

In der Schneedecke Fährten

Auch wir waren das mal, so Ge   fährten, nur ist es lange vorbei.
Was kann es sein, das mich nicht   mehr loslässt an so einem, dem
ich schreibe, entschuldigend und   zornig, zärtlich, verständnisinnig,
und der doch nur lauter verstummt.   Beharren? Er ist ja wie verblichen.
Und der Geist, der in mir wiedergeht,   scheint grausam damit zu spielen.
So gefriert der verharschte Schnee   auf aller gemeinsamen Zeit, denn
allem Zartgefühl habe ich selbst lang   abgeschworen. Da sind Fährten,
das Leben bis hier, nirgends seine,   unsichtbar, ungeworden. Fühlbar
trag nur ich unsere alte Geschichte   noch. Und dennoch – was ist es?
In der Schneedecke Fährten. Lass   gut sein. Jedem auf seine Weise,
ihm, mir, gestern, heute, morgen,   und allen Spuren eine gute Reise.

Schneeinvestment

Der verharschte Schnee und
die Spuren darin. Was oder
wer lief da, wohin, woher.
Alles Weite soll sich zeigen,
das ist die Schneeinvestition.
Alles wird Flocke, das Treiben
nimmt kein Ende, der Schnee ist
das beschlossene Aus alles Engen.
Was werden die Kinder behaupten
von dir, falls sie sich überhaupt
deiner erinnern. Du da, der du
früher vielleicht einmal warst,
bist du im Schneegestöber wieder.
Deine Hellseherkräfte haben reichlich
Rost an den Kufen, aber wer weiß schon,
wer hat von Weisheit einen Schimmer. Einer
der Jungs auf den Schlitten bleibst du für immer.

Roma Termini

Der dunkelblaue Ventilator
    eines Septembergewitters
        rotiert über Trastevere.

Ohne Schirm, nur im Hemd
    unterm alten Maulwurfkostüm,
        läuft er im Regen zum Fluss,

vorbei an einem Zentaur: Junge,
    junges Ding auf den Schultern.
        Gioletti. Letzte Pferdetram.

Schwitzend, mit Stützstrümpfen
    eine abgetakelte Schwuchtel,
        so sitzt man nicht im Greco.

Und mitten auf der Piazza Cavour
    ein zahnloser Mensch, genäht
        in Sacktuchfetzen, genau

da auf dem nachtdunklen Pflaster
    lümmelte Bosie am Cafeteriatisch
        in der Sonne, Weste, Hut weiß,

grinsende Muttergotteserscheinung.
    Auch der Lebensbogen hat sein
        Gedächtnis. Darum ist man ja

niemals allein, selbst der nicht,
    der für sich sein will, wenigstens
        in den schlimmsten letzten Momenten.

Erinnerung, Erinnye

Erinnerung: als wollte etwas nicht verbrennen, wenn das Gedächtnismeer
in Flammen steht. Als wäre mein Vater ein Brandschiff, die Decks voll Dynamit, und meine Mutter gießt in jede erste Schenke ihr Benzin. Wohin ich fahre, ist der Hafen immer Schutt und Asche lang, verbrannt im aller-
wundergelbsten Sonnenuntergang. Erinnye.

Erinnerung: ich kaute Fingernägel, dabei aber eigentlich Gedanken. Ich hatte nachts nicht bloß die Angst, ich hatte allen Grund, mir vorzustellen, vor dem Bett, in meinem Rücken, steht ein Mann. Und wenn ich mitten am Tag vor mir wieder den Brennenden sah, wusste ich immer schon lange Zeit vorher, wann es geschah. Erinnye.

Erinnerung: als ginge kurz nach Mitternacht die Sonne auf. Wir fuhren mit dem Käfer langsam auf den Unfall zu. A 7, Wagen brannten, nichts war abgesperrt, und in dem einen sitzt am Steuer einer und verbrennt. Und meine Mutter sagte in dem Hitzeschein: Du siehst da gar nicht hin, du siehst nur mich und was ich bin. Erinnye.

Nach einer Runde um die Sonne. Gedicht

An den offen stehenden Fenstern
  des Hotels Goldener Oktober,
gegenüber Kohlenmonoxidbirken
  und zwischen Schulflachbau,
Fernsehturmspitze und Sternen,
  ist da noch immer dieser Kern
an einem Abend anscheinend
  lebensvoll, nur völlig stumm,
auf dem Weg durch eine Nacht
  nach einer Runde um die Sonne.

Inmitten simulierten Miteinanders
  pulsen da weiter Golgi-Apparat,
endoplasmatisches Retikulum,
  Auffaltung, Instandhaltung
eines Tons und innigen Rests
  beständig vertrauter Stimme
im Birkenblättergerassel und
  blassen bleibenden Funkeln
auf dem Weg durch eine Nacht
  nach einer Runde um die Sonne.

Ob, wann, wo und wie

1
Sie schreibt dir früh, sie habe dich
   lieb. Du wirst davon wach, erkennst
wieder: Bäckerei, das Licht. Rauchend
    stehen Frauen in den Hauseingängen,
reden, lachen, und der Regen friert, es
    schneit, es wächst dir dein Gesicht.
Die Nacht siehst du und verschwimmen
    die Straße, die Lichter, einen Lösch-
zugeinsatz gegen sechs. Brennendes
    Verlangen nach Talk Talk im Morgen-
dröhnen. Nach Zimmerwind. Und dass
    der neue Tag mit ihrer Stimme beginnt.

2
In den Fenstern siehst du Lichter
    oder Leute, vereinzelt, fremd, die
sich fit halten, da unbeirrt glauben
    an Instandhaltung, die Haltbarkeit.
Das Mädchen mit dem Dutt nimmt
    die Brüste in die Hände und hüpft;
mit den beiden Huskys streicht der
    Maharadscha vorbei. Der Schnee,
verharscht. Zum 55. Mal 21. Februar.
    Die Stadt sinkt in die Stille ein, die
Tatenlosigkeit. In Nachtfrost. Warte
    auf kein Wunder mehr. Lass sein.

3
Was der Harsch meint: Da liegen
    Schneereste auf den Lichtungen.
Was die Hand des Nachbarjungen
    in den Schnee schreibt auf deiner
Motorhaube: Thanks Mister Winter.
    Was du wissen solltest: Unlenkbar
alles Glück. Es kommt, es geht vorbei.
    Bei Flockentreiben bleibt innen die
Stimme, die immer schon zu dir sagt:
    Hast du noch Lieder, dann sing sie
wem vor. Horch auf das Ticken im aus-
    kühlenden Motor: Sei Ticken und Ohr.

4
Fern: das Dorf im Luberon, das alte
    Haus mit den blauesten Fenstern,
mitten im Ort, unter dem Kirchlein,
    mit Blick von der Terrasse ins Tal,
mitten im Feigenduften. Manchmal
    scheucht der Mistral das Nichtfest-
genagelte die Straße hinunter. Nah:
    Kinder, Geister, unermüdlich Spiel.
Im Licht versteckt sich die Eidechse,
    der Parkplatzoleander schneit. Näher
als nah: sie und ihr Löwinnenverstehen
    aller Zweifel, ob, wann, wo und wie.

Kein Lied

Wohin unterwegs du warst
– unbekannt. Ich kenne
deinen Tagesbefehl
nicht, nur den Tag,
kein Lied, das
du gesungen hast,
vielleicht sogar gegrölt
aus vollem Hals und vor
lauter Heldenshit. Ich weiß
von keinem Schimmer Licht,
in dem du lagst. Froh? War da
ein Duft? Stiller Augenblick. So.
Licht. Ferne Geräusche, fremd.
Hat dich wer liebgehabt? Wer
war das? Eh die Geschosse
kamen, und immer näher,
bevor es die Granate
zerriss, die Stille
zersplitterte
und du
mit.

Zerlegung des Zerberus

Entsorgen wollen sie mich, meine Lieben,
wie ihre Mutter unseren Hund – nein, das
weiß nur noch ich. Ein gelber Collie-Mix,
der so treu war, dass er mir des Öfteren
zu weinen schien. Jetzt verstehe ich ihn.
Indifferenz ist die Sprache des Gespensts.

Natürlich, seinen Vater soll man zerstören.
Meiner, der schlug einmal meinem Hund
fluchend mit der flachen Hand aufs Maul,
weswegen ich nie wieder ein Wort mit ihm
sprach. Er ist tot, und ich gebe nicht nach.
Indifferenz ist die Sprache des Gespensts.

Innigkeit fällt uns nicht zu, sie hat triftige
Gründe, aber einen Anspruch auf Liebe
niemand. Doch ist jeder ihrer wert, jeder
Hund, der treu war, nicht bissig, nur nicht
beliebt. Gut, wenn es ihn nicht mehr gibt.
Indifferenz ist die Sprache des Gespensts.

Tegernsee. Reprise

Die einzige Hostie deines Lebens schmolz
    auf deiner Zunge in dieser Bauernkirche.
Deine Jüngste bestaunt die Einritzungen
    im Geländer der Empore: Gleichaltrige
schickten ihr Nachrichten, vom Juli 1759.
    Tölz, Isarhochwasser, und das Spaßbad,
du hast da schwimmen gelernt, abgerissen.

Regenfälle, als versuchten die Berghänge
    flüssig zu werden. Es schwemmt sie weg,
deine Wurzeln, und: Du hast eh nichts mehr
    zu suchen hier, du Spross einer Gegend.
Hirschwirtkind. Du Umbruchsohn. Du Leser
    leerer Schatten, von singbarem Schwund.
Und jedes Und ein Grund zur Versöhnung.

Leere

Die Leere in den Bibliotheken, in den Gärten, in Schulen: die Leere
   an der See, im silbernen Licht, die leeren Straßen, Märkte. Die Leere
in den Gesichtern, in den Sätzen, den Bergen, die Leere der Sainte-
   Victoire in den Zügen, im Schnee. Die Leere in den Träumen: Leere.
In den Liebesbekundungen, in den Klubs, Mails, Wolken, Stadien: die
    Leere. Am Himmel die Leere, auf den Wegen, in den Innenstädten,
den Schwimmbädern: Leere, wo ich stehe, wohin ich gehe, woher
    du kommst. Aus deiner Leere in meine. Die leeren Versprechungen,
Erinnerungen, die Leere im Wind, in den kahlen Bäumen, Lokalen,
    Perspektiven, Phrasen, Grünflächen: die Leere der hohlen Gesten.
Die Leere des Blicks da im Spiegel, in den Spielen der Kids und in
       den Kirchen, im Bus: die Leere, die leer ist, nichts weiter, nur leer.

Louisenthal

Es war bestimmt in diesem einen Sommer,
als nicht sehr weit entfernt die Olympiade
in München stattfand, die nur Spiele hieß
und deren Frohsinn auseinanderbrach
in Schrecken, Starre, einen Schock bis heute,
ja, Sommer 1972
wird es gewesen sein, als Josef Spagl
mir, ich war sieben, eines Abends zeigte,
wie man sich seine Schuhe band: zwei Schleifen,
zwei spitze Finger und – er sagte „Obacht!
Jetzt kummt, worauf’s fei akummt, schau guat hi!“ –
den einen, mir stets Wunderblitzmoment,
in dem der Daumen beide Senkelschlingen
nicht mehr bloß festdrückt, sondern tätig wird
zusammen mit dem Zeigefinger und
sie durchzieht, straffzieht und den Knoten knüpft
wie aus dem Nichts materialisiert,
ganz wie der Spaglsepp noch zu mir meinte:
„Dood is ned fester, klaaner Mo!“ – nein, denn
der Tod bringt alles, nur sich selbst nicht um.

Und mein Erinnern nicht. Dass nichts verschwindet,
bloß sich verlagert – nur wohin? –, wie kommt
Proust auf so etwas? Josef Spagl, da
schon, schien mir, 90, war der liebste Gast
im Wirtshaus meiner Großeltern in Gmund,
nein in Louisenthal am Tegernsee,
aus dem, vorbei an Gmund, die Mangfall fließt,
an deren Ufer unser Gasthof stand
in jenem schwarzen Sommer ’72.
War er in der Papierfabrik beschäftigt?
Ich seh den Sepp noch vor mir unverändert
groß, hager, traurig, freundlich, und besonders
entsinn ich mich des Goggos, seines Autos,
mit dem er kam, um so darauszuklettern,
dass gar nicht vorstellbar schien, wie ein Mensch
von seiner Länge darin Platz hat finden,
ja um den See dies Ding hat finden können
bis nach Louisenthal, zu mir und Opi.
Der liebte ihn. Und spielte oft ein Stück
auf dem Akkordeon für den Sepp, bloß ihn.

Das Lied hieß Allwei bist mei längsta Freind.
Was zu verschwinden heißt, was Wiederfinden,
erklärte mir der Spaglsepp mit zwei
Fetzchen Papier, geklebt mit Spucke auf
zwei Fingernägel – Hänselchen und Gretl –,
erklärte mir den Leonidenregen
und wann ihn das Akkordeon weinen ließ.
Im Sommer, als wir alle endlich weinten –
vielleicht im Wissen, welche Zeit begann –,
starb in derselben Woche wie in München
die elf Athleten eine Schülerin
aus meiner Klasse, die in Point
ein Laster überfuhr. Vergessen, wie
sie hieß, besuchte ich vor ein paar Jahren
in Gmund den St. Ägidius-Kirchhof und,
als ich schon wieder gehen wollte, sah
auf einmal Josef Spagls Grabstein dort
an einer Mauer lehnen, hinter der
ich in die Schule ging. Der Tod ist nichts,
das je zu trennen uns vermag, mein Freund.

Edenkoben

Phänomenale Simulationsentlarvung
durch die Grünfinken. Es gibt sie noch,
die helle Pracht im Bronzenen und im
Silbernen und im Goldenen Oktober.
Im Garten Edenkoben ja. Die Äpfel
rollen ins Gras, das sie davon abhält,
weiter zu stürzen, weiter zur Erdmitte.
Ich gehe in der Fliegenmansarde unter
dem Dach umher, Stubenfliegenrettung,
damit nicht alles sterben muss im Licht
der ausgesperrten Sonne.
                                                Die Fenster
sind verschließbare Öffnungen in Tag
und Tod. Nachts leuchtet der Regen.
Nichts leuchtet nachts wie Regen
aus dem Weinberg herauf, Regen,
der nach Riesling duftet. Die Bläue
ist groß, das Gras aber grüner, weil
ich es so will. Ich werde umziehen
ins Grünfinkenzimmer. Ich werde
die Unwirklichkeit abschütteln mit
einem Bussard als bestem Freund.

Für Ernest Wichner

Skorpion

Er trägt auf dem Rücken als Zeichnung
  ein einzelnes, blinzelndes, bewimpertes
Auge. Was es eräugt, fliegende, fliehende
  Beute, frisst er nicht. Er kann warten,
    wie Hitze, Gott warten. Er lähmt, zerrt
  alles Wände hoch in Staubwinkel. Im Stillen,
für dich, in deiner Stachelsprache, nenn ihn
  Mensch. Nur sprich das Wort nicht aus.

Für Andreas Altmann

Haus für Ritsos

Den uralten Pfad hinauf. Nur Schotter.
Und entlang dann, dann hindurch unter
Strauchwerk, scharf, stachlig, immergrün.
Alles war bewaffnet, Jannis, wie wir da
kampflustig so zur Kapelle hinanstiegen.
Thymian, Lavendel. Salbei. Phönizischer
Wacholder im Sommerradau der Zikaden.
Unbeugsam der Widerstand, unerbittlich
wie die Sonne die Schattenbemühungen
verhärteter Früchte und was der Ilex lehrt,
wenn das Licht ihn malträtiert: Wahr werden
alle Färbungen von allem, das aufbegehrt
und dabei doch gerechtbleibt wie die Grille,
die Eule. „Nichts“, so du da oben, „ist härter.“

Weißt du noch? Drei Tage lang hatten wir
bei Dauerregen alles alte Holz vom Keller
ins Haus geschleppt, zerkloppt und im Kamin
verfeuert. Unser Qualm, Jannis, quoll fabelhaft
über das Dach. Wolken wurden das Laufgitter
meiner Liebsten, Stühle, Rahmen, ein Sessel
und die alte, halbe Gute Frau von Forcalquier.
Vorbei an der Kapelle, in deren glaslose Fenster
Kinder mit dem Mistral riefen – drei Gespenster –,
stiegen wir zum Schloss hinauf. Weißt du noch,
der Trümmergipfel seit fast tausend Jahren?
„Ich bin zu lang schon tot. Und Griechenland,
mein Hellas ist verbrannt“, so da oben du.
Das Laufgitter meiner Liebsten, Stühle, Rahmen …

alles sah ich unter Kiefern, wie neu, da oben stehen.

Es war dein Haus. Nur die Tür und alle Fenster fehlten.

Elligersweg

Auszug

(…)

Bücher an die Straße gepackt,
auf die violette Backsteinmauer,
die in wärmeren Nächten immer
dieser junge Igel langtigert: Marx,
Manifest, Uhland, Gedichte, 1984
mit den Anstreichungen von 1984.
Ottmar Elliger d. Ä., Die Stillleben.
Ottmar Elliger d. J., Die Stillleben.

Irgendwann findet jemand heraus,
nicht nur alle Gemälde der beiden
malte der Sohn, er erfand einfach
den Vater, er wurde sein eigener!
Oscar Wilde liegt keine Minute da.
Der Gärtner hat einen dottergelben
laubbläserartig röhrenden Rollator,
an Don Quijote aber kein Interesse.

Auf Mascha Kaléko sitzt ein Sperling.
Während sich die Zimmer leeren und
in Kisten wandert ausnahmslos alles.
Ensemble schließt das alte Kapitel.
Das zitierte ist das wahre Leben,
die letzte unleserliche Schrift
Staub aus vier Sommern,
vier Sommer lang Staub.

(…)

Der Sommer mit Strindberg

Als ich Strindberg las, waren alle Bäume
anders. Umschlossen von glasigem Licht,
wirkte jeder beschützt. Er verwahrte sich.
Nachmittage lang lief ich mit den Hunden
über die Felder und an Waldrändern hin,
Hohlwege, durch die ich träumend ging,
und immer Überraschung: Wolkenbruch;
offene Scheune; verschwundenes Moos.
Die Hunde waren beide schwarz, liebten
einander, rangelten, lösten jedes Rätsel
verschieden. Sie kannten alle stärkeren
Äste auswendig, und was sie rochen, ja
war ein Zeichen: Minutenlang sahen sie
gedankenversunken in die Baumkronen.
Strindberg rief einmal einem Kritiker zu:
„Warten Sie, bis ich mit Ihnen abrechne
in meinem nächsten Stück!“ Das hab ich
nicht vergessen können. Die Kastanien,
dachte ich, sie sind Strindbergkastanien,
aus einem glasigen Licht, das dir etwas
zu sagen hat. Nur was? Dieselbe Frage
stand oft den zwei Rumtreibern im Blick.
Einmal, es war ein schwüler Mittag Mitte
August, jagte uns ein Schwarm Bremsen
die Felderraine entlang, und da segelten
aus dem abgestorbenen Zaubergezweig
einer Eiche dunkel wie drei Pfeilschatten
drei Schwalben, und sie fingen alle weg.
Alles kann geschehen, alles ist möglich
und wahrscheinlich, schreibt Strindberg,
Personen spalten sich, verdoppeln sich,
vertreten einander, sie gehen in Luft auf,
verdichten sich, zerfließen und fügen sich
erneut zusammen. In Ein Traumspiel ruft
Indras Tochter wieder und wieder, es sei
schade um die Menschen, und das ist es,
was ich seit dem Sommer mit Strindberg
glaube: Es ist um uns Menschen schade.

Neueste Maßnahmen

Erneut nach Erich Fried

Die Faulen werden wiederbelebt.
Fleißig genug ist die Welt!

Die Hässlichen werden wiederbelebt.
Die Welt ist schön genug!

Die Narren werden wiederbelebt.
Weise genug ist die Welt!

Die Kranken werden wiederbelebt.
Die Welt ist gesund genug!

Die Traurigen werden wiederbelebt.
Lustig genug ist die Welt!

Die Alten werden wiederbelebt.
Die Welt ist jung genug!

Die Feinde werden wiederbelebt.
Freundlich genug ist die Welt!

Die Bösen werden wiederbelebt.
Die Welt ist gut genug!

*

Letzter Ausflug

An einem ganz weißen Tag, sechs Monate
   nach Kriegsende, fuhr er mit dem Frühzug
noch mal nach Lüneburg zu einem Mädchen.
   Die Leber tat jetzt weh. Er fühlte sich gelb.
Sie spazierten vom Bahnhof zum Kalkberg,
   rasteten, beäugten sich, lachten, mochten
einander. Ewig langsam hinauf, von oben
   zeigte Fritzi ihm Bachs Kirche, den Alten
        Kran, die Ilmenau, er ihr sein Theater.

Im Zug zurück ein Spuk vergessener Bilder.
   Er sah sich, stand zugleich auf der Bühne,
wollte das Land, Äcker und Krater, das Grau
   von Bardowick bis Winsen gar nicht sehen.
Dann über die Elbe, und da war Hamburg,
   und alle alten Zeilen fielen ihm wieder ein.
Die Schmerzen. Er kam sich rühreigelb vor,
   zusammengesackt wie ein Luftschiff oder
        die in Brand geschossene Linde einmal.

Er schlich durch kaputte Straßen, die Linie 9
   fuhr bloß zweimal am Tag. Die Uhlenhorst,
wie vor den braunen Hunden. Winterhude,
   ein Hungerfeld. Der Stadtpark abgeholzt,
und Alsterdorf halb eingeäschert. Gärten,
   weggeweht vom Wind. Dann lehnte er da,
im finsteren Treppenhaus und war nicht, der
   er hatte werden wollen, noch der er wurde.
        Hörte Schiffe. Leuchtete, so gelb war er.

Für Wolfgang Borchert zum Hundertsten

Der Glastisch

Er steht heute im Dunkel in meinem Keller,
   der Glastisch, um den mein Vater und ich
herumstrichen, als es um alles ging, mein
   Aufbegehren, seine Gewalt, letztendlich
um Worte, um Selbstbestimmung, was ich
   und was er war und was er da spürbar
nicht länger hat zusammenballen können.

Mein Onkel will einmal seine Verlobte O.
   derart gereizt haben, dass sie ihn hilflos
auf den Glastisch schleuderte, worauf der
   zerbrach. Die gläserne Platte erneuert,
schoss mein Onkel die Frau zum Mond,
   wollte sie nicht mehr, gab den Glastisch
mir und will seither nichts von ihm wissen.

Ich saß an dem Glastisch, hatte Stapel von
   Steuerunterlagen vor mir, im Raum tobte
die Rasselbande, und es liefen Erik Saties
   Descriptions automatiques. Für die Frau
meines Lebens seinerzeit sei das, sagt sie,
   der eine Moment, in dem alles zerplatzte,
unser Leben, die Familie und ihre Zukunft.

Ein Junge war ich noch, immer unterwegs,
   ich stieg in die Bäume, um alles zu lesen,
und einmal, durstig, sah ich durchs Fenster,
   wie der Freund meiner Mutter geklammert
an den Glastisch zusammenbrach und starb.
   Tot lag er auf der Couch neben dem Tisch,
ums Kinn ein Geschirrtuch, das ich kannte.

Ich kenne das Möbelgeschäft am Isarufer
   von Tölz, aus dem der Glastisch stammt.
Ich weiß um seine Noblesse, weiß, er blitzt
   in einem Zimmer, das ewig leblos scheint.
Chrombeine hat er, immer kalt, absolut glatt.
   Er ist wie ein Fabeltier, das ausgerechnet
von meinem Leben alles mitangesehen hat.

Für Klaus Johannes Thies

Keine Schonung

Umzug, Umzug, Karneval im leeren Regal.
Diebisch lachen die Freunde diese Nacht,
komische Vögel. Ich trage das Faxgerät,
Geschenk einer Giraffe von Galeristin,
bei der ich zwischen lauter Kartons las,
für die Trödeljäger auf die Straße. Zack,
und weg. Im neuen Garten der Goldregen,
soll giftig sein. Werde ich, irgendwie, testen.
Keine Schonung, ein verwildertes Wäldchen
liegt hinterm Haus für die Zeit unter Kindern.

Voile

Dein Segel fährt durch das Exil,
wie eine Sonne über Kiesel zieht.
Sie geht unter, und das Segel sinkt.

Schon Nacht. Schwarzes Segel sinkt
durch das Exil, fällt bis auf den Grund,
flatternd weht es durch die Dunkelheit.

Und jeder Fisch, ein jeder dunkelgrün
Neun-, Acht- oder Siebenauge, blinkt,
leuchtet dein Segel unter den Sand.

Dieser Weg, wohin

Dieser Weg, wohin es auch
geht, er führt dich nicht zu
dir. Sondern mit sich, mit
davon, weg, hin zu etwas
Neuem. Weg. Weder zurück
in dein o-förmiges Kindheits-
wäldchen noch zurück auf
die Schwalbenspur. Nicht
auf die Hunderunde und nicht
an den Regenstadtrand. Schluss
mit der lieblosen Tristesse, vorbei,
Trauer um das bisschen Zartgefühl.
Orte lieber Orte, unerforscht außer-
halb deiner, ungeahnt innen. Sei
zeitfern du, bleib unterwegs,
unbändig ansprechbar.
Der Weg führt dich zu den
Anderen, in eine neue Weite,
wer weiß, wohin es geht, wenn
du dich weder finden musst
noch dich verlieren.

Ihr letzter Tag, Herr Präsident

Ihr letzter Tag, Herr Präsident, bricht an.
Bitte verlassen Sie das Weiße Haus,
Sie blinder, irrer, mieser alter Mann,
Und schaffen Sie ihr dummes Zeug hinaus
Und weg in Ihre Sonne. Nehmen Sie
Die Paladine mit, mit die Claqueure,
Die scheinbar wahre Scheindemokratie.
Ich höre Stimmen und die Tiere, höre
Die Sie so lange stützten, so elendig
Gekaufte Meute. Bäume twittern Tweets:
Schluss! Ende der Verelendung! Lebendig
Entgehen wir seiner Verbalmiliz.
Von Ihnen, fetter Clown des Fakes,
Lernt die kaputte Welt: Bleib unterwegs.

Für Lucile

Halt du die fürchterlich schwarzen
Flecken zwischen den Knospen
der Fensterorchidee nicht für
Nacht, oder für das Dunkel
in deinen Gedanken. Hör
die weißen Tasten. Und
denk an das Kind, das
da im Zimmerhalblicht
des Dezembervormittags
Klavier spielt. Es spielt weiter,
auch wenn du die Vorhänge schließt.