Die Immortellen

Die Nebelbänke in den Talsenken und Mulden westlich von Strasbourg – durch die ich hindurchrausche mit 307 Stundenkilometern.

Nach Nietzsche muss „eine große, feste Glocke von Unwissenheit um dich stehn“. Es sei nicht genug, einzusehen, in welcher Unwissenheit Mensch und Thier (!) leben würden – „du mußt auch noch den Willen zur Unwissenheit haben und hinzulernen.“ Es läutet. Und ich glaube ihm nicht, diesem Bildergeklingel von der Kanzel herab. (Mein Fuchs aber weiß nichts, er lächelt.)

In den Gärten, die zur Yvette hinunterführen, hängt im Sprühregen die Wäsche. (Gif, 1.10.)

Der Leichenwagen kommt und schiebt – langsam, ungeheuer, wie in meinem Gedicht … – das Heck vor das Kirchenportal. Dort stehen im weißen, bis zu den Knöcheln reichenden Alben zwei Ministranten und weinen. Aus einem Kleinbus steigen die sechs Sargträger (und spätestens jetzt hätte ich vor einiger Zeit noch begonnen, ein Gedicht zu konzipieren). Sie schultern den hellbraunen Kasten mit dem Leichnam darin: Das Gewicht lässt einen Lidschlag lang den Toten sichtbar werden, wie er oder sie noch am Leben war. Dann erlischt die barmherzige Vorstellung. Der Ruck auf die Schultern ist das Menschliche, das keines Prinzips bedarf. Im Kasten schlägt der Gestorbene mit der Stirne kurz gegen das Holz. Sobald der Sarg auf den Schultern ruht und ihr Weg die Träger an den weinenden Messdienern vorbei in die Küche führt, legen sie jeder die freie Hand, den Handteller nach außen gewendet, auf den Rücken. Seltsam bleibendes Bild von dem Toten im Sarg, der das alles miterlebt.

Unterhalb der Friedhofsmauer, auf Kopfhöhe mit den im Erdreich (selig, unruhig) Schlafenden, trabt ein Pulk Sportler durch den Abend und weiter, hinaus aus dem Ort, wo über den die Hügel hinaufstrebenden Wiesen voller Ginster, Taxus und Immortellen schon die Nacht wartet. Die Toten wachen auf von dem hellen Lachen und Johlen der Lebendigen. Die Blumen auf den dunklen Gräbern drehen die Köpfe an ihrer Statt, ich habe es nicht mit eigenen, aber fremden Augen gesehen.

Unter dem tschilpenden Baum in der abendlichen Stille die Dorfjugend am Tisch im Freien. Ils se racontent. Die Immortellen rasseln. Ils se racontent. (Volx, 3.10.)

Frei zu sein, das heißt auch frei zu sein von Dünkeln, Hassen, Angst oder Kummer haben.