Eine Schwalbensilhouette

„Ich träume nicht so viel, wenn ich die Augen zuhabe“, sagt das Kind. „Am meisten träume ich, wenn ich die Augen aufhabe und rumlaufe.“ (30.6.)

„Ja: Es ist eine Zeit, in der so viel möglich war wie vielleicht noch nie, im Bösen und im Guten, und vor allem im Unerhörten; geheimnisvolle Zeit, in der jetzt etwa lang vor dem Morgen der Tauregen aus einem Baum klatscht.“ Peter Handke, „Kali“

„Urban Sketching“, heißt es, sei zurzeit schwer angesagt. Man strichele, mit Bleistift, auf Papier, was man im Alltagsleben, im Freien, so sehe. Alles sei möglich. – Ich wusste es immer: Die Wende kommt, es ist nur eine Frage der Zeit. Bald zertrümmern wir unsere Smartphones. Oder lassen sie einfach irgendwo liegen, wie eine durchlöcherte Mütze, die zu nichts mehr taugt.

„Wenn ein Tier stirbt, kann keiner das reparieren“, sagt das Kind. „Und genauso kaputt ist ein Herz.“

Die in die Lesung einführende Universitätsprofessorin spricht über die Kunst des lückenhaften Erzählens in Daniel Kehlmanns Eulenspiegelroman „Tyll“. Eine Lesung im Freien, im Garten des Literarischen Colloquiums am Wannsee in Berlin. Linder Abend. Tiefstehende Sonne. Der herrliche Wind mit seinem glücklichen Rasseln in den Uferbäumen. Die Professorin setzt alles daran, dem Buch, das vor ihr auf dem Lesepult liegt, ihr Wissen zu entlocken, magierinnenartig wischt und zieht und zaubert ihre Hand darüber hin, und tatsächlich: Im Gegenlicht deutlich zu erkennen als Schatten, wischt eine Schwalbensilhouette aus den Seiten, entwischt dem Roman und entkommt über den See. (Berlin-Wannsee, 5.7.)