Nichts, und dennoch, mit Blicken

Durch den warmen Frühlingsabend eilen die Sportler, auf dem Rücken Taschen voller Stiefel, Uniformen, Helme, Schläger, Waffen. Die Amseln halten singend die Welt zusammen. Die Frauen in den Bussen haben täglich ein Kleidungsstück weniger an. Die Busfahrer träumen von den Zigaretten, früher, auf dem sich erwärmenden Asphalt des alten, zuschanden gefahrenen ZOBs, als sie am Bus lehnten und nach Feierabend noch Sport trieben oder vom Bolzplatzrand aus wenigstens noch zusahen.

Die Bücher, die du geliebt hast, lies wieder, das erhält dir die Liebe und zeigt dir ihre Geschichte (die Geschichte der Liebe) in dir. Joseph Roth schreibt zwischen 1928 und 1930 in dem erst in seinem Nachlass entdeckten Romanfragment „Perlefter“ über das Entstehen des Unwirklichkeitsgefühls in einem Mann, der davon keinen Schimmer hat: „So genoß Perlefter eigentlich weniger seine Erlebnisse als die Ernnerungen an seine Erlebnisse. Während er sie wiederkäute, erzählte, den wehmütigen Glanz um sie wob, den man aus den Erinnerungen schöpft und mit dem man sie umkleidet, wurde er erst zum kühnen Abenteurer, Fraueneroberer und Herzensbrecher. Sobald er heimgekehrt war, entzückten ihn sein Mut und seine Taten. Während er unterwegs nach seinem Taschenkalender eroberte, hörte er sich schon von den Eroberungen erzählen, erlebte er schon seine Erinnerungen, und eigentlich nur der Erinnerungen wegen beging er Abenteuer. Er glich einem Menschen, der für sein Tagebuch lebt. Perlefter aber führte kein Tagebuch.“

Noch einmal – hier zu Armut und Liebe – Joseph Roth in seinem „Perlefter“, mit dem er aus Kafkas Schatten tritt und ihn weit hinter sich lässt: „Weshalb sollte er auch nicht die Annehmlichkeiten des Lebens genießen? Er war sehr lange arm gewesen, und die Armut, die so viele Nachteile hat, entschädigt ihre Lieblinge durch einen Ernst, den sie ihnen verleiht, auch wenn sie ihn nicht verdienen. Es sehen manche Menschen nur deshalb bedeutend aus, weil sie arm sind, und man ist geneigt, einem Hungerleider ein Genie zuzubilligen, das in Wirklichkeit nur Elend ist. Die große Ungerechtigkeit der Weltordnung verleitet uns dazu, den Armen auch noch Werte beizumessen, obwohl Armut allein schon Anlaß wäre, den von ihr Befallenen zu lieben.“

Zwei Frauen Ende dreißig – in Barmbek heißt das etwas Anderes als in der Innenstadt – treffen sich nach Jahren wieder im Bus. Sie erzählen von den größer gewordenen Kindern, den Schulen der Kinder, den Berufen der Männer, der Gesundheit der Männer und der Kinder. Von sich erzählen sie einander nichts, und dennoch, mit Blicken, der Mimik, der unverhohlenen Abfälligkeit in den Zügen, alles. (7.4.)