Rätsel, Rosette

Ein Traum von Peter Handke: Ich sollte eine Nacht lang im Heuschober mit ihm übernachten und, in ein altes Tonbandgerät, flüsternd meine Beobachtungen sprechen (Obernai, Hotel „Le Gouverneur“, 21. Juli, der Innenhof, in dem früher die Pferde standen).

Auf dem Mont St. Odile die Heidenmauer, eine auf und ab laufende, kilometerlange Vergeblichkeit – und die Männer, die Pferde, Esel, die sich hier im Hochwald zu Tode geschuftet haben müssen, wofür? Um aufzufahren in ein abgeschmacktes Bild von Himmel? Wann war das, und wer waren sie? Rätsel, die keine Rolle spielen vor der in die Mauern des Odilienbergs geritzten Schrift: Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn was früher war, das ist vergangen.

Wieder der alte Gedanke beim Anblick der leuchtenden Rosette im Straßburger Münster: Nimm alles ernst, ausgenommen nicht das Geringste, nur dich selbst. Dich achte, immer, gerade weil du nicht immer alles Andere achten kannst (die Rosette, la rosace, ihre farbigen Strahlen, Blüten, Blätter, die pupillengleich ausgesparte Mitte: ein BILD für das schöne Auge (des) Gottes?).

Jahrhunderte lang muss es im Münster den Beruf des Namenssteinmetzes gegeben haben: In teils kunstvoller Schrift sind in die roten Mauersteine der Wände hoch oben über der Aussichtsplattform die (Nach-)Namen derer gemeißelt, die im 17., 18. und 19. Jahrhundert den Turm der Kathedrale bestiegen und die Nachwelt das wissen lassen wollten. Goethes Name steht unter der Jahreszahl 1780, Schillers schmucklos und allein, Lavaters ist zu zwei Dritteln („Lav“) herausgebrochen. Darunter, dünn und falsch: LENTZ – (elbwärts, 22.7.).

Foto © Sabine Bonné