Landgang, der zehnte

Bundesstraße 212, ich fahre zwei Stunden lang südwärts, von Nordenham nach Delmenhorst, eine Stunde davon stehe ich im Stau und staune einmal mehr, angewidert, wie ich zugeben muss, von der Absurdität unserer entzweigegangenen Bezüge. Lastwagen reiht sich an Lastwagen, Auto an Auto, während wir Idioten fast alle einzeln vorbeikriechen an Pferdeweiden, stillen Weilern, Deichen, Chausseen, Chausseen, unter einem Himmel voller Tauben, Schwalben und Stare.

Orkan über Delmenhorst. Eine Kaltfront zieht von Westen übers Land und wird den Meppener Moorgestank erledigen – so hoffen es die Leute, die mit brennenden Augen – ich meine das nicht metaphorisch – durch die Delmenhorster Innenstadt geweht werden. Nein, ein Witz ist das nicht. Der Dichter ist zu Gast, der Narr, der alles sagen darf, solange er es lustig sagt und die Leute sich dran freuen, weil er den Spiegel hat und ihn ihnen vorhält, den Spiegel, durch den sie alle rennen würden, hätte sie nicht Besseres zu tun. Sei’s drum, es ist eh bloß ein scheinbarer, ein Scheinspiegel.

Ich bin allein im Delmenhorster Schlosspark. Früh aufgestanden, obwohl es schüttet. Wo ist das Schloss? Verschwunden, Burg Delmenhorst. Ich laufe durch den von Neuem einsetzenden Regen, unter den schönen alten Buchen und Ahornbäumen an der Delme, bis auf die Insel hinauf, die Burginsel. Aber auch dort steht keine Burg. Es gibt einen Burggraben, sogar zwei, Innere Graft und Äußere Graft, nur die Burg, die „de Horst“ heißen, geheißen haben soll, fehlt. Das verschollene, das verschwundene Schloss. Es hat, es hatte einen blauen, einen roten und einen runden Turm, ein Herrenhaus, einen Kapellenflügel, ein Zeughaus, ein Gästehaus, ein Kommissarienhaus, einen Burghof mit Brunnen – nichts von alledem gibt es noch, nur in der Vorstellung. Nur? Seit dreihundertsieben Jahren ist Burg Delmenhorst unsichtbar. „She was, she was / A friend of mine. / Do us a favour / Your one and only warning / Please be gone by morning“, singt David Sylvian und könnte damit Schloss Delmenhorst gemeint haben, genauso aber uns alle, von denen nichts bleiben wird außer die Erinnerung derer, die sich bemüßigen, das heißt die Zeit nehmen, sich zu fragen: War da nicht was, ein Leben? „She was, she was / A friend of mine.“ Lesen Sie nach, weshalb es Schloss Delmenhorst nicht mehr gibt, nichts mehr davon, so, als hätte es nie existiert – es leuchtet nicht ein. („Seit 2015 forsche ich zum Leben der letzten Gräfin auf dem Schloss Delmenhorst, Sibylla Elisabeth von Oldenburg und Delmenhorst, geb. Herzogin von Braunschweig-Lüneburg (1576–1630), die im Dreißigjährigen Krieg elf Jahre lang Regentin in Delmenhorst für ihre noch unmündigen Söhne war“, schreibt mir einige Monate später die Historikerin Herta Hoffmann. „Bei der Archivarbeit fiel mir in Wolfenbüttel eine sensationelle Architekturzeichnung in die Hände. Ich schicke sie Ihnen gerne mit entsprechenden Erläuterungen.“)

Rathaus und Rotunde mit gläserner Kuppel der Markthalle auf dem Rathausvorplatz in Delmenhorst stammen von dem Architekten Heinz Stoffregen, wie auch Haus Coburg mit dessen Städtischer Galerie – Stoffregens Ansatz ist ein ganzheitlicher, dabei nüchterner, so schöner wie pragmatisch orientierter. Das Haus soll von innen heraus ins Äußere wachsen, sein Mittelpunkt sind die Menschen, die darin leben und hinaussehen in die Welt. Fenster sind wichtigstes Bauelement. Stoffregens Baukunst ist ein Stoffregen, die Stoffe regen sich und bewegen noch heute, zumindest einen wie mich. Sehr bedauerlich, das Verschwinden der Arkaden, die einst Markthalle und Rathaus verbanden mittels einer poetischen Brücke, die Stein schien, aber nicht war – die zwar Stein war, aber im Grunde doch mehr. Mitte der Fünfzigerjahre schien eine Omnibusstation und Businsel vor das Rathaus gesetzt werden zu müssen, da war für verbindende Arkaden kein Platz mehr.

Auf die wiederaufgetauchte Zeichnung des verschwundenen Schlosses Delmenhorst (Abbildung 3) wies mich freundlicherweise Herta Hoffmann vom Heimatverein Delmenhorst hin.