Das Gras

Crow

Why be only cinder,
says the crow to the cranes,
when you stand in light, why
is my song a caw. Waa!

skyscrapers, trams.
I had feathers as motley
as clouds Waa! in the icy
wind. Had rivers as plumage,

claws that etched the sounds
of the trees into the ground, so
Waa! was a path to the warmth
of the summer street. It was a fire.

Was flames, a red blaze,
ghostly Waa! a burning
window. I flew through it,
and it was the eagle, was Waa!

the god who blackened me,
left me mute and searing.
Song and map and mantle,
in crow dreams Waa! they

are one. I came to a morning.
And treetop was the great light.

For Tony Birch

(Translated by Mirko Bonné)

Fontaine

Fontaine (2024)

In Fontaine de Vaucluse im Luberon schrieb Petrarca seinen Canzoniere, Liebesgedichte an Laura, wo es in Sonett CXXIV heißt:

Lasso, non di diamante, ma d’un vetro
veggio di man cadermi ogni speranza,
et tutt’i miei pensier romper nel mezzo.

Aus Glas gefertigt, nicht aus Diamant,
seh aus der Hand ich gleiten jede Hoffnung,
und mit fällt all mein Denken und zerbricht.

Francesco Petrarca bestieg zusammen mit seinem Bruder den Mont Ventoux, er schrieb darüber einen Aufsatz und gilt seither unfreiwillig als Begründer des Alpinismus. Fontaine liegt an der Sorgue, die hier entspringt – die mächtigste Quelle Europas, ihr Wasser birst in Quellzeiten aus dem Gebirge, das es kilometerweit talwärts durchflossen hat. Es ist um zehn Grad kalt. Links am Hang sieht man ein bungalowartiges Gebäude stehen. Dort befindet sich der Sommersitz des französischen Staatspräsidenten Lamartine – in meinem Roman „Fallingwater“, an dem ich schreibe.

Im Gegensatz zur Luftgitarre

Immer Amateur bin ich geblieben, wie im Schreiben so im Leben, wie dem Dichten so dem Alltag gegenüber. Meine Bildung ist die Einbildungskraft, und es gibt mich, weil ich empfinde und damit ich fühle und spüre. Ja, denke ich: Du mein Denken langst mir nicht oder warst mir fremd von Anfang an.

Podium zu Joseph Conrads 100. Todestag. Ich begegnete Rainer G. Schmidt, mit dem ich nett, innig binnen Sekunden sprach über Rimbaud. Seine schönen Augen würdevoll. Er hat den Schalk im Nacken. Er sagte, er vermisse sein Leben am Nikolassee, wo er täglich die Vogelzüge habe beobachten können. Alt ist er geworden – oder ist älter, als ich dachte. Ich sah mich in ihm. Dabei war er ganz da. Übersetzt weiterhin Thoreau. (LCB, Berlin-Wannsee, 7.5.)

Sein 90. Geburtstag. Seit acht Jahren ist er tot – und bin ich erleichtert. Zum ersten Mal in all der Zeit denke ich milder an ihn, vergleiche, urteile nicht ab, denke ihm nach, gedenke. Der Mistkerl. Der Verlorene, nicht der Versager. Ich weiß ja gar nicht viel ihm – sein Versagen. Wie gern säße ich heute Abend mit meinem alten Herrn in einem Lokal seiner Wahl am Hafen und hörte ihm zu. Nie gab es dazu die kleinste Chance.

Dichtung, ohne Egomanie – was wäre sie? Dichtung.

Entwurf: Allein in dem Palast, / über den See kommen die Lichter und bleiben. / Dunkel wie die Täfelung ist das Wasser, eine Stille unterbrochen nur von Kühlaggregaten. / Ich bin angekommen ohne Hast, das Zimmer winzig, der Blick über den See in sein versöhnliches Dunkel. Berliner Gespräch, Berliner Coolness. Keiner hat eine Vorstellung davon, wie es irgendwem geht. Häppchen, Chicoréeschiffchen. / Das Dunkel. Die Lichter, wo geschlafen werden wird. Hier habe ich mit dem Mondgesicht getanzt, hier war die Vergangenheit jedes Mal zu Ende und hängen noch immer dieselben Trugschlüsse an den Wänden.

Im Gegensatz zur Luftgitarre gibt es das Luftgewehr nicht nur in der Vorstellung (aber auch). Beide sind dennoch gleich wirklich.

Die dunkelhäutige Schönheit hinter der Kasse kommt um den Tresen herum und hinkt durch den Laden nach hinten. Als sie zurückgehumpelt kommt, erscheint sie mir liebreizend. (Manosque, 17.5.)

Saumselig, die Mohnblumen.

Die graue Katze, die schwarze Katze, junge Schwestern, du erkennst es an ihrer Augenscheu.

Weihnachten 1979

Und ich seinerzeit! Ich war 14, die zweite Ehe meiner Eltern ging in die Brüche. Ich erfand die Geschichte eines Fußballvereins. Erste Höhepunkte. Politik? Poesie? Eher Musik, „Follow you, follow me“, die Kunst der Geheimhaltung und die der Lust. Joy Div hörte ich nicht, solange es die Band gab. Bei Michelle am Hamburger Hauptbahnhof sah ich zum ersten Mal das Cover von „Love Will Tear Us Apart“ und den Engel darauf, der zu Stein geworden war aus Kummer. Ich schrieb noch keine Gedichte, aber ich erfand die Geschichte eines Fußballvereins. Ian Curtis nahm sich im Mai 1980 das Leben. Als ich an seinem Grab stand – ich kam aus Schottland und fuhr nach Wales –, lagen darauf lauter hellblau-weiße Schals. Ian war loyal supporter der Cityzens, von Manchester City, das 1979 kein Aktienverein war, sondern Team der Vorstädte, vom Rand. Am Boxing Day, dem 26. Dezember ’79, spielte Man City zu Hause an der Maine Road 1:1 gegen Stoke City. „Love Will Tear Us Apart“ und alle Songs von „Closer“ können zu Weihnachten 1979 entstanden sein.

Foto und Facebookbeitrag verdanke ich Sven Meyer.

Plattformtragkraft 6000 kg

Ich kann mich auf mich noch verlassen: Ich weiß noch, in welcher Manteltasche ich das Haargummi deponiert habe, das den kaputten Regenschirm zusammenhält.

Die Zeit, in der du lebst, versucht dich davon zu überzeugen, dass du weniger weißt als andere. Was nicht stimmt. Kein Mensch wusste je mehr als der, der neben dir an der Straßenkreuzung steht.

„Das Leben ist: seine Ungenauigkeit.“ Wilhelm Genazino, „Mittelmäßiges Heimweh“

Du musst unbedingt begeistert sein beim Schreiben eines Romans – und die Begeisterung in Balance halten.

Das Mädchen, das nur einen Moment lang sichtbar wird im Licht ihrer Displayleuchte – du siehst es in diesem Augenblick.

Genugtuung ist das höchste der menschlichen Gefühle. („Fallingwater“)

„I almost believed I am real“ Daft Punk

Plattformtragkraft 6000 kg.

Schreib noch „Winter in Ventura“, die Prosagedichte, und dräng auf den Band mit den zweiten Aufsätzen – und dann ist auch genug. Wenn die Freiheit erreicht ist, bist du frei. Sollen die Kinder sehen.

House of love – Babe rainbows
The Walker brothers – Nightflights

Tropischer Regenwald – als ich in dem Spaßbad das Schild las, stand für mich dort Optischer Regenwald.

DAS HAUS VERLASSEN. Nur wenig mitnehmen.
Eine Handvoll Schatten, den Umriß von Tisch und Stuhl.

Die Schlüssel liegen lassen, die weißen Seiten
zwischen den ungelebten Jahren deines Lebens.

Dieses Leben. So, wie man die Sprache verläßt,
um mit der Stille zu reden. Einziehen in Trauer

und Schnee, auf die sich unser Herz verläßt.
Sich niederlassen in einem Wort, das man noch

nicht gefunden hat, um das man erst
mit dem Tod würfeln muß.

Christian Saalberg
(10.12.1926–25.5.2006)

Laugharne

And the gates / Of the town closed as the town awoke.
Dylan Thomas

Die Wellen, die draußen ertrinken wollen,
   laufen zum Schlafen alle in die Dünen.
Und du bleibst? Meinetwegen. Gut, bleib.
   Die Strände lang versinken grauenvolle
Schätze im Schlamm, und zwischen ihnen
   führt deine Spur, als wär sie selber Welle.
Kennst du am Ortsende die Engeltankstelle?

Der Küstensaum ist Küstenwall. Alles treibt
   gut oder übel sonst her. Schon ist es weg.
Binnenland so ein Backsteinort, der träumt
   von krummem Regen. Such ein Versteck
am Sonnenheizofen, und du findest keins.
   An den Himmelsfäden runter hängt eins.
Vorm Ortsende kommt die Engeltankstelle.

Jeder Schuppen ein Käfer, die Beine Pfähle
   mit Muschelpocken, wo Jungs hämmern.
An Leinen knallen blau Röcke. Die räumt
   der Wind in die Luft, wenn es dämmert.
Die See kommt nicht zu Besuch, fast nie.
   Sie kennt ja alles, nur keine Diplomatie.
Aber am Ortsausgang die Engeltankstelle.

Und in den Zimmern aus Zwieback und Ale
   Häher-Gourmets, Möwen-Versteherinnen.
Kinder-Krähen. Mit Glück knospt ein Kahn
   in einer Bö. Alles was zählt, ist drinnen,
draußen ist zu. Nimm dich jemandes an,
   und bist’s nur du. War’s das? Dann geh.
Am Ortsende siehst du die Engeltankstelle.

Für Jan Wagner

Von drei Stühlen und lauter Vögeln

Seit acht Jahren wollen die drei verstaubten Stühle unter der Dachschräge mir etwas sagen, aber bekommen kein Wort heraus.

In Oraison gibt es nicht nur das unsichtbare Hippodrom. Es gibt in Oraison auch den elektrischen Fluss. Und die Scheintankstelle.

Ein riesiger Greifvogel über Moustiers, zwei Junge in seiner Rufweite. Der Einheimische sagt mir, es sind Geier, des vautours.

Die Dohlen sind da. Sommer. Obwohl es noch gar keine Früchte an den Bäumen gibt. Sie stimmen sich ein. Sommer. Warum waren sie letzten Sommer nicht da – wo wart ihr?

T. Rex – Electric warrior

Hinter lauter Tulpen lehnt an der Hauswand eine Sonnenuhr voller Moos oder Flechten: 1961.

T. Rex – The slider

Schnecke eins kriecht über den Zement zu den Pfützen des Schauers von gerade eben, aber bevor sie das Wasser erreicht, ist alles verdunstet.

Briefe an den erfundenen Freund.

Langsamer, uralter Igel ohne Stacheln. Schnecke zwei kriecht den Feigenbaum hinauf, mitten durch die verblüfft wirkenden Ameisen und unentwegt untersucht von Hornissen, echte Ungetüme. Wohin will sie?

Beim Tanken in Bresse-en-Bourg tschilpen unterm Dach der Autobahnraststätte hunderte Spatzen – derselbe Ton wie am Abend in dem Wäldchen am Schwimmbad bei Freiburg. (30.3.24)

Saharasand. Bei Grenoble war er ockerbraun und vermischte sich spielend mit dem Dauerregen über den Alpes-Haute Provence. Er sorgte für ein gelbes Licht, das alle Grüntöne hervortreten ließ und das Grau auffächerte, damit es noch grauer erschien.

Problèmes des riches

Wer noch die Zeit findet und den Mut dazu hat, kommt immer wieder zurück zu Rimbaud, um sich zu befragen – nicht nur zu fragen –, wie es sein kann – was? Trotz allen Stumpfsinns da zu sein, noch und wohl auch zumindest morgen. Wie es, nein wie sie sein kann, diese umfassende Gewaltverwicklung der Welt und immer näher rückend sogar bis zu dir hineinverwickelt in deine Umwelt oder Unwelt – wo doch zurselben Zeit in dieser Um-, Un- oder Ohnwelt auch ein Sperling tschilpt. Von drei Menschen weiß ich, dass sie Rimbaud aufrichtig zu verstehen und zu begreifen versucht haben – und dass Henry Miller, Enid Starkie und René Char Jahrzehnte benötigten, bis sie ihre Annäherungen annähernd auszudrücken vermochten. Mich macht der Junge mit der inneren Hydra ebenso ratlos wie der Mann mit den Sohlen aus Wind. Rimbaud ergreift mich und stößt mich im selben Augenblick ab. Er ist die sternenklare Nacht der Poesie, ein Schwarzes Loch, in dem die Dichtung zusammengebacken wird zu einem Diamanten, der so scharfe Kanten hat, dass er dir die Hände zerschneidet, sobald du danach greifst.

Problèmes des riches.

Schon indem ich sage, ich will die Welt behalten, wie sie ist, desavouiere ich mich. (Und die Welt.)

„Wir schätzen den Wert Ihrer Immortelle“, las ich, auch wenn dort Immobilie stand. (Neuss, 14.3.)

Die Straßennamen weisen uns nicht nur hin, ebenso weisen sie zurück in die Geschichte der Straße. Impasse des oliviers. Olivenbaumsackgasse, Olivenbaumstich oder -stieg. Am Ende der Impasse liegt ein Hof, umstanden von einstöckigen, geziegelten, gelb getünchten Wohnhäusern. Wo standen die Bäume? (Endlich wieder in Volx, 16. März 2024)

Abgesehen davon, dass „die Welt“ gar nicht behalten werden kann, wie sie ist – ich hätte sie ansonsten ja behalten, wie sie war. Behalten wann? Als die Welt so mir gehörte wie ich ihr.

Genesis – We can’t dance

Wann? Als es in den Dörfern und den Vorstädten noch die Stille gab, wenigstens zuweilen. Als die Kinder (wir) noch auf den Straßen spielten, in den Wäldern, auf den Feldern – wo ich überall herumlag und Löcher starrte in die Luft.

Ich sehe zur Uhr, als die Glocke schlägt. Ich sehe zur Uhr, weil die Glocke schlägt. Ich sehe zur Uhr, bis die Glocke schlägt.

Kranführer in der Unterwelt

Wenn es erst kein Münzgeld mehr gibt, was machen dann die Bettler? Womöglich werden sie ein Kartenlesegerät haben, und wir überweisen ihnen dann – online – einen Euro. Mein Herz sagt, dann ist die Zeit angebrochen, um ihnen Brot zu geben, einen Saft, ein Stück Obst. Die Münze ist ein Austauschmittel, non? Sie ist eine Währung, die Währung und Wahrung der Geste, und wenn sie ausbleibt – was folgt?

Franz Schubert – 9 Impromptus (Karl Schnabel, 1939 und 1953)

Mein Vater war Kranführer in Heidelberg. Heute ist er Kranführer in der Unterwelt.

Die Postbotin rumpelt auf ihrem gelben Rieseninsekt vorbei – hörbares Zeichen, dass die Packtaschen leer sind, die Briefe verteilt. Der Tag ist versendet und kann gehen.

„Du zahlst bar für die Wahl deines eigenen Schicksals.“ Tomas Venclova

Heute sah ich im Frost einen Lastwagen vor dem Fenster sich heben und senken, als atme er auf seinen sechs Achsen, als hole er Luft, atme ein und aus. Er hatte Arme, die er kurz vor Abfahrt verschränkte, dann fallen ließ und versenkte, tief wie in Hosentaschen.

Im eiskalten Pfützenwasser der Schneeschmelze baden die Tauben.

Grizzly Bear – Yellow house
The Sea and Cake – One bedroom

Am frühen Morgen den alten Wasserstrahl wiedergetroffen: „Ah, da bist du ja.“

Grizzly Bear – Horn of plenty
Band of Horses – Infinite arms
Grizzly Bear – Painted ruins

Niemand wird es je vernehmen – oder hat es je vernommen –, das unhörbare Orchester des Windes, wie es des Nachts den Busch vor dem Restaurant vis-à-vis hin und her schwanken lässt. Jeder einzelne Ast eine Stimme für sich, alle aufeinander abgestimmt. Dazu trommelt leise der Regen. Dezemberregen. Hin und her. Und dazu das Dunkel, der Gesang des Dunkels.

Katze: fleischfressende Fellrose.

„In diese Zeit also mußte ich zurück mit meinen Träumen.“ Klaus Mann

Testudo

Seit Juli vermisst: Schildkröte.
Der Zettel mit Zeichnung, gepinnt
an die nachtwarme Hauswand,
erzählt von ihr, aber nicht viel.
Man erfährt nicht, wie groß sie ist,
noch steht da etwa ihr Name – du
heißt womöglich genau wie sie.
Gleich, wie lang es sie schon gibt,
40 Jahre (dann hätte sie die Größe
eines Kindersoldatenhelms) oder
70 (mit einem verirrten Mähroboter
würde man sie verwechseln) oder
auch 120 (sie gliche dann einem
der friedfertigen Provencewarane) –
dein Alter bemisst du an ihrem.

Wilde Schildkröte, kriech weiter
durchs Hochsommerdunkel, setz
einen Fuß vor den anderen und sei
nicht die Ruine einer Orangenhälfte.
Die Trompete des Donners. Summen
müder Grillen. Oben in die Stille gekippt
Geglitzer in den Sternwipfeln. Oleander
ist ein schleppendes Feuer, ein Rosa,
so tief, dass der Tag darin ertrinkt.

Der Nachtduft atmet. Lauwarm ist er
wie die Hand des Mädchens, dem
sie gehört und dessen Pulsschlag sie
noch durch ihren Panzer gespürt hat.
Komm schon, flüsterte es, zeig mal
den Kopf. Manchmal spielt sie noch
Römische Formation. Oder sie fängt
aus der Luft ein Knisterblatt. Schon
bündelt sie alle Bewegung, jedes
glücklose Eilen, zu dieser Stille,
die sie ganz so enthält, wie sie
alle Schildkröten enthält. Außen
erlischt sie, innen kriecht sie weiter
hinaus aus dem Tod, und dir zeigt sie,
der hier sterben muss, das bist du.

Das Herz ist die einzige Richtung

Schlägt die Totenglocke für jede und jeden gleich lang? Heute, da sie minutenlang läutete, langsam hallend wie stets, schien mir, ein sehr alter Mensch aus dem Dorf könnte gestorben sein und die Glocke für jedes seiner gelebten Jahre ein Mal schlagen. (Volx, 20.10.)

Stünde es womöglich besser um das Verhältnis zwischen Frauen und Männern, hätten letztere seit Jahrhunderten Röcke getragen und Frauen Hosen?

In Frankreich verwechsle ich Schnecke und Eichhörnchen.

Der Hund schnappt nach der Hornisse.

Die Angst in den Gesichtern der Schafe, die die Landstraße entlanggetrieben werden, sie gilt wie immer dem Hund, ebenso aber der Fremde, die sie erwartet, der Unwägbarkeit. (Forcalquier, 23.10.)

„Le coeur est la seule destination“, schreibt Christian Bobin, und weiter: „On y arrive quand on ne croit plus rien.“ So ist es. Das Herz ist die einzige Richtung. Wir erreichen es, sobald wir nichts mehr glauben.

Würde ich mir wieder einen Hund zulegen (ich würde heute sagen, mich von einem begleiten lassen und ihn begleiten) – ich würde ihn Vergeblichkeit nennen.

Spoon – Ga Ga Ga Ga Ga
U 2 – The unforgettable fire

Immer öfter das Empfinden, mein Talent arbeitet unabhängig von mir. So schlecht ich mich auch fühle, die Texte kommen zustande. (Hör auf, Talent!)

Den ganzen Tag lang leben sie nebeneinander her. Jeder von beiden macht „so sein Ding“. Nachts aber suchen meine Füße einander, schmiegen sich einer an den anderen, wärmen sich gegenseitig, fast als bedauerten sie das hinter ihnen und am folgenden Tag erneut vor ihnen liegende Getrenntsein.

Humble Pie – Humble pie
Bruce Springsteen – Darkness on the edge of town

Ich möchte in den Sommer ziehen, der Herbst ist nicht mehr mein Zuhaus.

Der Maschinenbaugipfel.

Kreidetafel: „Ein Gehängter 2 Euro“ (Bremen, Schnoor, 8.11.)

Was passiert, wenn der Narr erkennt, dass er den Narren stets nur deshalb gespielt hat, weil er immer einer war, ein Narr? Nichts. Nichts passiert. (Hittfeld, 9.11.)

Alle unbesprochenen Sterne.

Gehst du mit mir fort, auf Händen, auf allen Vieren, weit fort, zu weit?

Wie freudig und wie munter das Leben vorbeiholpert.

Spiel noch einmal, während du die Kinderzimmer aufräumst und die Mädchen in der Schule sind, spiel noch einmal zu lernen, nicht mehr zu spielen.

Hinweise für Häuser

Tor in Ostia (2023)


Ostia Antica – die Bäume bist du, die Ruinen bin ich. Überall zwischen den nackten roten Steinen und Ziegeln der Duft nach Zitronenmelisse und Wildem Majoran.

Die eine innige Begegnung in Rom: Auf die Maschendrahtbalustrade der Dachterrasse, wo ich lese und rauche, setzt sich ein handgroßer grüner Papagei und ruft mich dazu auf, ihn zu beachten. „Was willst du?“, frage ich ihn, und er schreit noch lauter, mit großen, glänzend schwarzen Augen. „Soll ich dir was vorlesen? Magst du Oscar Wilde?“ Als ich mich kurz abwende und in dem Buch blättere, ist er verschwunden, ein grünes Loch dort, wo er saß. (Rom, 23.9.)

Warum ist jeder Lastwagen, der aus dem Dunkel auftaucht, ein Ungeheuer?

Unter dem Hochbahnviadukt flattern ein Dutzend Tauben auf – als würde die über 100 Jahre alte Stahlbrücke endlich – ja! – lebendig werden, Vögel werden. (10.10.)

„Wir können noch mehr Lärm vertragen!“, rufe ich den Handwerkern zu, als ihr stunden-, tage-, wochenlanges Hämmern und Fräsen endlich – ja! – verstummt. „Kannste haben!“, ruft einer zurück. Und ich: „Dann los! Worauf wartet ihr Bekloppten?“ – „Gleich komm ich rauf zu dir!“ – „Vergiss aber deinen Presslufthammer nicht, Pressluftmann!“ Wohin ich auch ziehe, das Gerüst steht schon ums Haus und erwartet mich. In welchem Zimmer ich auch sitze und zu schreiben versuche, die Gerüstbauer starren zu den Fenstern herein und warten darauf, die Maurer rufen zu können.

Hinweise für ein Haus.

67 Jahre Glastransport.

Die Spatzen im Gras der winzigen Raststättengrünfläche – hüpfende Erdhügel. (Bourg-en-Bresse, 19.10.)

Misstrauensbildende Maßnahmen.

Im Grunde frage ich mich jeden Tag: „Wer bist du?“

Die Unterwegsbahnhöfe.

Wie schnell sich Augen an das Dunkel gewöhnen, zeigt, wie langsam sich das Dunkel an Augen gewöhnt.

Das letzte Licht, das auf eine Baumkrone fällt: Erinnerung an ihre Blüten.

Stufen in Ostia (2023)

Endlich: Konflikte mit Wildtieren

Die Ecke verpufft dann wirkungslos. Geliebte Fußballsprache.

Zwischen zwei Gewittern.

Endlich: Unter einem Vorstadtparkplatz das Regentropfenpräludium gehört. Endlich: Der junge Pianist aß während seiner einführenden Worte eine Crêpe.

„What good is love / Mmm, that no one shares“ Clyde Otis

Endlich: Der Audi mit aufgeklappter Hecktür wirkt abgesägt.

„Willst du den Kaffee schwarz wie meine Seele oder blass wie eine Blondine“, fragt mich der Mensch hinter dem Tresen bei Starbuck’s. Ob er Moby-Dick gelesen hat?

Ein Krähensprichwort: Jede Taube eine taube Nuss.

Werde Bierkutscher.

Ein Weg zurück in die Kindheit.

Ich habe keinen Schatten mehr, weiß, wusste wohl immer schon zuviel von ihm. Jetzt ist er aufgebraucht.

Endlich: Konflikte mit Wildtieren.

Wie in weißen Lack gefallene Eichhörnchen klettern und sitzen die Maler auf dem Gerüst, das ums Haus läuft.

In der Erstausgabe von Peter Handkes „Das Gewicht der Welt“, die ich auf dem Flohmarkt kaufe (2 €), steckt ein handschriftlicher Zettel: „Holzschläger / Grays Light Blue Super“. (16.9.)

Schreiben: den Schmerz zu spüren, ihn auszuhalten und zu verwandeln, was Schreiben heute bedeutet. (18.9.23)

Meine erste Zementarbeit

Meine erste Zementarbeit – es wurde Zeit. Den Sockel der Haustür, zermürbt von den Herbst- und Winterregenfällen, rissig von den Vibrationen des zunehmenden Autoverkehrs im Ort, habe ich erneuert. Den Zement selbst angerührt, aufgetragen, verstrichen und geschmirgelt. Ein Werk für keine Ewigkeit, aber dem alten guten Haus angemessen.

Der Leonidenregen.

Ich forme und füge, fülle, falte, falze und verbinde – mit meiner Zauberhand aus Zement.

Geschichten von den Überresten aus dem Plastikzeitalter.

Schuhe aus Beton.

Zehn Minuten für einen Kuss.

Der Streik der Sterne.

Die augenblicklichen Fische.

An einem großen Gitter im Gegenlicht hängen festgeklammert mit Händen und Füßen ein halbes Dutzend Jugendliche. Hinter dem Gitter liegt ein kleiner grüner Badesee. Es ist 40 Grad heiß, und der See wird gespeist aus dem Quellwasser der eiskalten Sorgue. (Fontaine de Vaucluse)

Ophelias Reisekosten.

Aus den Rimbaud-Übersetzungen

Bannières de mai

Aux branches claires des tilleuls
Meurt un maladif hallali.
Mais des chansons spirituelles
Voltigent parmi les groseilles
Que notre sang rie en nos veines,
Voici s’enchevêtrer les vignes.
Le ciel est joli comme un ange,
L’azur et l’onde communient.
Je sors. Si un rayon me blesse
Je succomberai sur la mousse.

Qu’on patiente et qu’on s’ennuie
C’est trop simple. Fi de mes peines.
Je veux que l’été dramatique
Me lie à son char de fortune.
Que par toi beaucoup, ô Nature,
− Ah moins seul et moins nul ! − je meure.
Au lieu que les Bergers, c’est drôle,
meurent à peu près par le monde.

Je veux bien que les saisons m’usent.
À toi, Nature, je me rends ;
Et ma faim et toute ma soif.
Et, s’il te plaît, nourris, abreuve.
Rien de rien ne m’illusionne ;
C’est rire aux parents, qu’au soleil,
Mais moi je ne veux rire à rien ;
Et libre soit cette infortune.

Mai 1872.

Maibanner

An den helllichten Lindenzweigen
Verendet elend ein Halali.
Geistliche Lieder aber schwirren
Da zwischen den Johannisbeeren,
Dass uns das Blut lacht in den Adern,
Sieh nur den Wirrwarr Weinberg an.
Der Himmel ist hübsch wie ein Engel,
Azur und Fließen werden eins.
Ich geh. Falls mich ein Strahl erfasst,
Krepiere ich halt auf dem Moos.

Dass man Geduld hat und sich langweilt,
Das ist zu simpel. Bah, mein Kummer.
Ich will dramatisch mich vom Sommer
Fesseln lassen an sein Glücksgefährt.
Dass ich an dir so, o Natur,
– Nicht einsam, ah nicht nichts! − oft sterbe.
Statt dass die Schäfer, guter Witz,
Halbwegs verrecken an der Welt.

Ich will mich mürber jeden Monat.
Dir gebe ich, Natur, mich hin;
Samt Hunger und samt allem Durst.
Und bitte dich um Speis und Trank.
Nicht das Geringste kann mich täuschen;
Lacht an die Eltern, wie zur Sonne,
Ich aber will zu gar nichts lachen;
Und frei soll dieses Unglück sein.

Mai 1872.

Der Buëch

Er kommt dir
in der Finsternis
aus dem Schädel
gestürzt, der Fluss,

du hast die Alpen
hinter den Augen,
ihr Schiefergrauen
ein Totholzbrausen.

Die Burg von Serres
geopfert Brückenbau,
Brücken weggerissen,
Hindernis, Hindernis,

hinter deinen Augen
rauscht in dir talwärts
der gestürzte Fluss.
Das Schotterwasser.

Der Zweifel ist nicht mehr erlaubt

So erschütternd wie verwunderlich ist, was Christian Bobin über Jesus von Nazareth schreibt: „Il ne dit pas: aimez-moi. Il dit: aimez-vous. Il y a un abîme entre ces deux paroles. Il est d’un côté de l’abîme et nous restons de l’autre. C’est peut-être le seul homme qui ait jamais vraiment parlé, brisé les liens de la parole et de la séduction, de l’amour et de la plainte.“ Er ist vielleicht der einzige Mensch, der, gekappt die Verbindungen des Worts und der Verführung, der Liebe und der Klage, je wahrhaft gesprochen hat. (Volx, 1.8.)

„Le doute n’est plus permis“, singt Jane Birkin, mit deren Tod mitten in diesem Mistralsommer ein weiterer großer und schöner Teil meiner Welt gestorben ist. Der Zweifel ist nicht mehr erlaubt.

Und Du, Sinéad? Ich wusste gar nicht, dass ich älter war als Du. Jetzt bist Du gestorben, mit 56 Jahren. Gott, was habe ich Dich angehimmelt, Deinen geschorenen Kopf, Deinen existenzialistischen Rollkragenpulli mit dem Badge STOP STARING AT MY TITS – was ich verstand und richtig fand, aber genauso von mir wies, um Dich weiter ansehen zu können. O I’m so sorry for my rapture. Du warst mehr als sexy. Du warst der Inbegriff der Sexyness im Fürstentum meiner Bewunderung. Die Stimme und ihre Verkörperung. Es war schwer, Dich unpolitisch, nicht gesellschaftskritisch zu sehen. O yes, but I did. Poetisch gesehen warst Du und bleibst ein selbsterschaffenes Wesen, wie Prince durch Unbilden dem Business entwachsen. Die Tragik Deines Lebens und Endes ist Deiner Musik eingeschrieben. Du hast mich oft begleitet, oft getröstet, oft erschüttert. Viele Landschaften, durch die ich fahre, verbinde ich, Sinéad, mit Dir. (4.8.23)

Im Gartenpark des Konvents Les Cordeliers breitet ein junger Hippie seine im Brunnen ausgewaschenen Klamotten auf den Heckensträuchern aus. Die Mittagshitze brennt herab auf Forcalquier. Die Birnen und Äpfel reifen in Stunden. Die Ameisen wandern durch die Zeit, und wir, der Hippie und ich, müssen bald sterben, aber noch nicht heute, noch nicht gleich. Er da drüben im Schatten der Hecke mit seinen Anziehsachen darauf und ich hier auf meiner Familiensteinbank im Schatten unter der Platane, wo ich frühstücke, wissen es: So wie alles vergebens ist, so ist nichts verloren.

Das Weiterschreiben, das Weiter-und, weiter-und weitere Schreiben als Trost, für dich und für die, die es angeht und kümmert.

In das am Nachmittag abgedunkelte Straßenzimmer fällt durch die Fensterläden ein Lichtstreif, und darin tanzt ein Firmament aus Staubflocken, nur in diesem schmalen, sich verbreiternden Dreieck – das aber ersichtlich macht: Im ganzen Zimmer tanzen die Sterne aus Staub. (Volx, 8.8.)

Die Kebap-Imbisswirtin ist Türkin oder Kurdin, und sie ist müde wie ihr Mann, der hinten im Lokal auf dem Fußboden schläft. Sie bereitet die Fritten und Falafel zügig zu, sie lächelt und gähnt und trägt ein schwarzes T-Shirt mit dem Paillettenaufdruck QUEEN OF DISCO. (Manosque, Anfang August.)