Das Gras

Laugharne

And the gates / Of the town closed as the town awoke.
Dylan Thomas

Die Wellen, die draußen ertrinken wollen,
   laufen zum Schlafen alle in die Dünen.
Und du bleibst? Meinetwegen. Gut, bleib.
   Die Strände lang versinken grauenvolle
Schätze im Schlamm, und zwischen ihnen
   führt deine Spur, als wär sie selber Welle.
Kennst du am Ortsende die Engeltankstelle?

Der Küstensaum ist Küstenwall. Alles treibt
   gut oder übel sonst her. Schon ist es weg.
Binnenland so ein Backsteinort, der träumt
   von krummem Regen. Such ein Versteck
am Sonnenheizofen, und du findest keins.
   An den Himmelsfäden runter hängt eins.
Vorm Ortsende kommt die Engeltankstelle.

Jeder Schuppen ein Käfer, die Beine Pfähle
   mit Muschelpocken, wo Jungs hämmern.
An Leinen knallen blau Röcke. Die räumt
   der Wind in die Luft, wenn es dämmert.
Die See kommt nicht zu Besuch, fast nie.
   Sie kennt ja alles, nur keine Diplomatie.
Aber am Ortsausgang die Engeltankstelle.

Und in den Zimmern aus Zwieback und Ale
   Häher-Gourmets, Möwen-Versteherinnen.
Kinder-Krähen. Mit Glück knospt ein Kahn
   in einer Bö. Alles was zählt, ist drinnen,
draußen ist zu. Nimm dich jemandes an,
   und bist’s nur du. War’s das? Dann geh.
Am Ortsende siehst du die Engeltankstelle.

Für Jan Wagner

Von drei Stühlen und lauter Vögeln

Seit acht Jahren wollen die drei verstaubten Stühle unter der Dachschräge mir etwas sagen, aber bekommen kein Wort heraus.

In Oraison gibt es nicht nur das unsichtbare Hippodrom. Es gibt in Oraison auch den elektrischen Fluss. Und die Scheintankstelle.

Ein riesiger Greifvogel über Moustiers, zwei Junge in seiner Rufweite. Der Einheimische sagt mir, es sind Geier, des vautours.

Die Dohlen sind da. Sommer. Obwohl es noch gar keine Früchte an den Bäumen gibt. Sie stimmen sich ein. Sommer. Warum waren sie letzten Sommer nicht da – wo wart ihr?

T. Rex – Electric warrior

Hinter lauter Tulpen lehnt an der Hauswand eine Sonnenuhr voller Moos oder Flechten: 1961.

T. Rex – The slider

Schnecke eins kriecht über den Zement zu den Pfützen des Schauers von gerade eben, aber bevor sie das Wasser erreicht, ist alles verdunstet.

Briefe an den erfundenen Freund.

Langsamer, uralter Igel ohne Stacheln. Schnecke zwei kriecht den Feigenbaum hinauf, mitten durch die verblüfft wirkenden Ameisen und unentwegt untersucht von Hornissen, echte Ungetüme. Wohin will sie?

Beim Tanken in Bresse-en-Bourg tschilpen unterm Dach der Autobahnraststätte hunderte Spatzen – derselbe Ton wie am Abend in dem Wäldchen am Schwimmbad bei Freiburg. (30.3.24)

Saharasand. Bei Grenoble war er ockerbraun und vermischte sich spielend mit dem Dauerregen über den Alpes-Haute Provence. Er sorgte für ein gelbes Licht, das alle Grüntöne hervortreten ließ und das Grau auffächerte, damit es noch grauer erschien.

Problèmes des riches

Wer noch die Zeit findet und den Mut dazu hat, kommt immer wieder zurück zu Rimbaud, um sich zu befragen – nicht nur zu fragen –, wie es sein kann – was? Trotz allen Stumpfsinns da zu sein, noch und wohl auch zumindest morgen. Wie es, nein wie sie sein kann, diese umfassende Gewaltverwicklung der Welt und immer näher rückend sogar bis zu dir hineinverwickelt in deine Umwelt oder Unwelt – wo doch zurselben Zeit in dieser Um-, Un- oder Ohnwelt auch ein Sperling tschilpt. Von drei Menschen weiß ich, dass sie Rimbaud aufrichtig zu verstehen und zu begreifen versucht haben – und dass Henry Miller, Enid Starkie und René Char Jahrzehnte benötigten, bis sie ihre Annäherungen annähernd auszudrücken vermochten. Mich macht der Junge mit der inneren Hydra ebenso ratlos wie der Mann mit den Sohlen aus Wind. Rimbaud ergreift mich und stößt mich im selben Augenblick ab. Er ist die sternenklare Nacht der Poesie, ein Schwarzes Loch, in dem die Dichtung zusammengebacken wird zu einem Diamanten, der so scharfe Kanten hat, dass er dir die Hände zerschneidet, sobald du danach greifst.

Problèmes des riches.

Schon indem ich sage, ich will die Welt behalten, wie sie ist, desavouiere ich mich. (Und die Welt.)

„Wir schätzen den Wert Ihrer Immortelle“, las ich, auch wenn dort Immobilie stand. (Neuss, 14.3.)

Die Straßennamen weisen uns nicht nur hin, ebenso weisen sie zurück in die Geschichte der Straße. Impasse des olivers. Olivenbaumsackgasse, Olivenbaumstich. Am Ende der Impasse liegt ein Hof, umstanden von einstöckigen, geziegelten, gelb getünchten Wohnhäusern. Wo standen die Bäume? (Endlich wieder in Voll, 16. März 2024)

Abgesehen davon, dass „die Welt“ gar nicht behalten werden kann, wie sie ist – ich hätte sie ansonsten ja behalten wollen, wie sie war. Behalten wann?

Genesis – We can’t dance

Wann? Als es in den Dörfern und den Vorstädten noch die Stille gab, wenigstens zuweilen. Als die Kinder (wir) noch auf den Straßen spielten, in den Wäldern, auf den Feldern – wo ich überall herumlag und Löcher starrte in die Luft.

Ich sehe zur Uhr, als die Glocke schlägt. Ich sehe zur Uhr, weil die Glocke schlägt. Ich sehe zur Uhr, bis die Glocke schlägt.

Kranführer in der Unterwelt

Wenn es erst kein Münzgeld mehr gibt, was machen dann die Bettler? Womöglich werden sie ein Kartenlesegerät haben, und wir überweisen ihnen dann – online – einen Euro. Mein Herz sagt, dann ist die Zeit angebrochen, um ihnen Brot zu geben, einen Saft, ein Stück Obst. Die Münze ist ein Austauschmittel, non? Sie ist eine Währung, die Währung und Wahrung der Geste, und wenn sie ausbleibt – was folgt?

Franz Schubert – 9 Impromptus (Karl Schnabel, 1939 und 1953)

Mein Vater war Kranführer in Heidelberg. Heute ist er Kranführer in der Unterwelt.

Die Postbotin rumpelt auf ihrem gelben Rieseninsekt vorbei – hörbares Zeichen, dass die Packtaschen leer sind, die Briefe verteilt. Der Tag ist versendet und kann gehen.

„Du zahlst bar für die Wahl deines eigenen Schicksals.“ Tomas Venclova

Heute sah ich im Frost einen Lastwagen vor dem Fenster sich heben und senken, als atme er auf seinen sechs Achsen, als hole er Luft, atme ein und aus. Er hatte Arme, die er kurz vor Abfahrt verschränkte, dann fallen ließ und versenkte, tief wie in Hosentaschen.

Im eiskalten Pfützenwasser der Schneeschmelze baden die Tauben.

Grizzly Bear – Yellow house
The Sea and Cake – One bedroom

Am frühen Morgen den alten Wasserstrahl wiedergetroffen: „Ah, da bist du ja.“

Grizzly Bear – Horn of plenty
Band of Horses – Infinite arms
Grizzly Bear – Painted ruins

Niemand wird es je vernehmen – oder hat es je vernommen –, das unhörbare Orchester des Windes, wie es des Nachts den Busch vor dem Restaurant vis-à-vis hin und her schwanken lässt. Jeder einzelne Ast eine Stimme für sich, alle aufeinander abgestimmt. Dazu trommelt leise der Regen. Dezemberregen. Hin und her. Und dazu das Dunkel, der Gesang des Dunkels.

Katze: fleischfressende Fellrose.

„In diese Zeit also mußte ich zurück mit meinen Träumen.“ Klaus Mann

Testudo

Seit Juli vermisst: Schildkröte.
Der Zettel mit Zeichnung, gepinnt
an die nachtwarme Hauswand,
erzählt von ihr, aber nicht viel.
Man erfährt nicht, wie groß sie ist,
noch steht da etwa ihr Name – du
heißt womöglich genau wie sie.
Gleich, wie lang es sie schon gibt,
40 Jahre (dann hätte sie die Größe
eines Kindersoldatenhelms) oder
70 (mit einem verirrten Mähroboter
würde man sie verwechseln) oder
auch 120 (sie gliche dann einem
der friedfertigen Provencewarane) –
dein Alter bemisst du an ihrem.

Wilde Schildkröte, kriech weiter
durchs Hochsommerdunkel, setz
einen Fuß vor den anderen und sei
nicht die Ruine einer Orangenhälfte.
Die Trompete des Donners. Summen
müder Grillen. Oben in die Stille gekippt
Geglitzer in den Sternwipfeln. Oleander
ist ein schleppendes Feuer, ein Rosa,
so tief, dass der Tag darin ertrinkt.

Der Nachtduft atmet. Lauwarm ist er
wie die Hand des Mädchens, dem
sie gehört und dessen Pulsschlag sie
noch durch ihren Panzer gespürt hat.
Komm schon, flüsterte es, zeig mal
den Kopf. Manchmal spielt sie noch
Römische Formation. Oder sie fängt
aus der Luft ein Knisterblatt. Schon
bündelt sie alle Bewegung, jedes
glücklose Eilen, zu dieser Stille,
die sie ganz so enthält, wie sie
alle Schildkröten enthält. Außen
erlischt sie, innen kriecht sie weiter
hinaus aus dem Tod, und dir zeigt sie,
der hier sterben muss, das bist du.

Das Herz ist die einzige Richtung

Schlägt die Totenglocke für jede und jeden gleich lang? Heute, da sie minutenlang läutete, langsam hallend wie stets, schien mir, ein sehr alter Mensch aus dem Dorf könnte gestorben sein und die Glocke für jedes seiner gelebten Jahre ein Mal schlagen. (Volx, 20.10.)

Stünde es womöglich besser um das Verhältnis zwischen Frauen und Männern, hätten letztere seit Jahrhunderten Röcke getragen und Frauen Hosen?

In Frankreich verwechsle ich Schnecke und Eichhörnchen.

Der Hund schnappt nach der Hornisse.

Die Angst in den Gesichtern der Schafe, die die Landstraße entlanggetrieben werden, sie gilt wie immer dem Hund, ebenso aber der Fremde, die sie erwartet, der Unwägbarkeit. (Forcalquier, 23.10.)

„Le coeur est la seule destination“, schreibt Christian Bobin, und weiter: „On y arrive quand on ne croit plus rien.“ So ist es. Das Herz ist die einzige Richtung. Wir erreichen es, sobald wir nichts mehr glauben.

Würde ich mir wieder einen Hund zulegen (ich würde heute sagen, mich von einem begleiten lassen und ihn begleiten) – ich würde ihn Vergeblichkeit nennen.

Spoon – Ga Ga Ga Ga Ga
U 2 – The unforgettable fire

Immer öfter das Empfinden, mein Talent arbeitet unabhängig von mir. So schlecht ich mich auch fühle, die Texte kommen zustande. (Hör auf, Talent!)

Den ganzen Tag lang leben sie nebeneinander her. Jeder von beiden macht „so sein Ding“. Nachts aber suchen meine Füße einander, schmiegen sich einer an den anderen, wärmen sich gegenseitig, fast als bedauerten sie das hinter ihnen und am folgenden Tag erneut vor ihnen liegende Getrenntsein.

Humble Pie – Humble pie
Bruce Springsteen – Darkness on the edge of town

Ich möchte in den Sommer ziehen, der Herbst ist nicht mehr mein Zuhaus.

Der Maschinenbaugipfel.

Kreidetafel: „Ein Gehängter 2 Euro“ (Bremen, Schnoor, 8.11.)

Was passiert, wenn der Narr erkennt, dass er den Narren stets nur deshalb gespielt hat, weil er immer einer war, ein Narr? Nichts. Nichts passiert. (Hittfeld, 9.11.)

Alle unbesprochenen Sterne.

Gehst du mit mir fort, auf Händen, auf allen Vieren, weit fort, zu weit?

Wie freudig und wie munter das Leben vorbeiholpert.

Spiel noch einmal, während du die Kinderzimmer aufräumst und die Mädchen in der Schule sind, spiel noch einmal zu lernen, nicht mehr zu spielen.

Hinweise für Häuser

Tor in Ostia (2023)


Ostia Antica – die Bäume bist du, die Ruinen bin ich. Überall zwischen den nackten roten Steinen und Ziegeln der Duft nach Zitronenmelisse und Wildem Majoran.

Die eine innige Begegnung in Rom: Auf die Maschendrahtbalustrade der Dachterrasse, wo ich lese und rauche, setzt sich ein handgroßer grüner Papagei und ruft mich dazu auf, ihn zu beachten. „Was willst du?“, frage ich ihn, und er schreit noch lauter, mit großen, glänzend schwarzen Augen. „Soll ich dir was vorlesen? Magst du Oscar Wilde?“ Als ich mich kurz abwende und in dem Buch blättere, ist er verschwunden, ein grünes Loch dort, wo er saß. (Rom, 23.9.)

Warum ist jeder Lastwagen, der aus dem Dunkel auftaucht, ein Ungeheuer?

Unter dem Hochbahnviadukt flattern ein Dutzend Tauben auf – als würde die über 100 Jahre alte Stahlbrücke endlich – ja! – lebendig werden, Vögel werden. (10.10.)

„Wir können noch mehr Lärm vertragen!“, rufe ich den Handwerkern zu, als ihr stunden-, tage-, wochenlanges Hämmern und Fräsen endlich – ja! – verstummt. „Kannste haben!“, ruft einer zurück. Und ich: „Dann los! Worauf wartet ihr Bekloppten?“ – „Gleich komm ich rauf zu dir!“ – „Vergiss aber deinen Presslufthammer nicht, Pressluftmann!“ Wohin ich auch ziehe, das Gerüst steht schon ums Haus und erwartet mich. In welchem Zimmer ich auch sitze und zu schreiben versuche, die Gerüstbauer starren zu den Fenstern herein und warten darauf, die Maurer rufen zu können.

Hinweise für ein Haus.

67 Jahre Glastransport.

Die Spatzen im Gras der winzigen Raststättengrünfläche – hüpfende Erdhügel. (Bourg-en-Bresse, 19.10.)

Misstrauensbildende Maßnahmen.

Im Grunde frage ich mich jeden Tag: „Wer bist du?“

Die Unterwegsbahnhöfe.

Wie schnell sich Augen an das Dunkel gewöhnen, zeigt, wie langsam sich das Dunkel an Augen gewöhnt.

Das letzte Licht, das auf eine Baumkrone fällt: Erinnerung an ihre Blüten.

Stufen in Ostia (2023)

Endlich: Konflikte mit Wildtieren

Die Ecke verpufft dann wirkungslos. Geliebte Fußballsprache.

Zwischen zwei Gewittern.

Endlich: Unter einem Vorstadtparkplatz das Regentropfenpräludium gehört. Endlich: Der junge Pianist aß während seiner einführenden Worte eine Crêpe.

„What good is love / Mmm, that no one shares“ Clyde Otis

Endlich: Der Audi mit aufgeklappter Hecktür wirkt abgesägt.

„Willst du den Kaffee schwarz wie meine Seele oder blass wie eine Blondine“, fragt mich der Mensch hinter dem Tresen bei Starbuck’s. Ob er Moby-Dick gelesen hat?

Ein Krähensprichwort: Jede Taube eine taube Nuss.

Werde Bierkutscher.

Ein Weg zurück in die Kindheit.

Ich habe keinen Schatten mehr, weiß, wusste wohl immer schon zuviel von ihm. Jetzt ist er aufgebraucht.

Endlich: Konflikte mit Wildtieren.

Wie in weißen Lack gefallene Eichhörnchen klettern und sitzen die Maler auf dem Gerüst, das ums Haus läuft.

In der Erstausgabe von Peter Handkes „Das Gewicht der Welt“, die ich auf dem Flohmarkt kaufe (2 €), steckt ein handschriftlicher Zettel: „Holzschläger / Grays Light Blue Super“. (16.9.)

Schreiben: den Schmerz zu spüren, ihn auszuhalten und zu verwandeln, was Schreiben heute bedeutet. (18.9.23)

Meine erste Zementarbeit

Meine erste Zementarbeit – es wurde Zeit. Den Sockel der Haustür, zermürbt von den Herbst- und Winterregenfällen, rissig von den Vibrationen des zunehmenden Autoverkehrs im Ort, habe ich erneuert. Den Zement selbst angerührt, aufgetragen, verstrichen und geschmirgelt. Ein Werk für keine Ewigkeit, aber dem alten guten Haus angemessen.

Der Leonidenregen.

Ich forme und füge, fülle, falte, falze und verbinde – mit meiner Zauberhand aus Zement.

Geschichten von den Überresten aus dem Plastikzeitalter.

Schuhe aus Beton.

Zehn Minuten für einen Kuss.

Der Streik der Sterne.

Die augenblicklichen Fische.

An einem großen Gitter im Gegenlicht hängen festgeklammert mit Händen und Füßen ein halbes Dutzend Jugendliche. Hinter dem Gitter liegt ein kleiner grüner Badesee. Es ist 40 Grad heiß, und der See wird gespeist aus dem Quellwasser der eiskalten Sorgue. (Fontaine de Vaucluse)

Ophelias Reisekosten.

Aus den Rimbaud-Übersetzungen

Bannières de mai

Aux branches claires des tilleuls
Meurt un maladif hallali.
Mais des chansons spirituelles
Voltigent parmi les groseilles
Que notre sang rie en nos veines,
Voici s’enchevêtrer les vignes.
Le ciel est joli comme un ange,
L’azur et l’onde communient.
Je sors. Si un rayon me blesse
Je succomberai sur la mousse.

Qu’on patiente et qu’on s’ennuie
C’est trop simple. Fi de mes peines.
Je veux que l’été dramatique
Me lie à son char de fortune.
Que par toi beaucoup, ô Nature,
− Ah moins seul et moins nul ! − je meure.
Au lieu que les Bergers, c’est drôle,
meurent à peu près par le monde.

Je veux bien que les saisons m’usent.
À toi, Nature, je me rends ;
Et ma faim et toute ma soif.
Et, s’il te plaît, nourris, abreuve.
Rien de rien ne m’illusionne ;
C’est rire aux parents, qu’au soleil,
Mais moi je ne veux rire à rien ;
Et libre soit cette infortune.

Mai 1872.

Maibanner

An den helllichten Lindenzweigen
Verendet elend ein Halali.
Geistliche Lieder aber schwirren
Da zwischen den Johannisbeeren,
Dass uns das Blut lacht in den Adern,
Sieh nur den Wirrwarr Weinberg an.
Der Himmel ist hübsch wie ein Engel,
Azur und Fließen werden eins.
Ich geh. Falls mich ein Strahl erfasst,
Krepiere ich halt auf dem Moos.

Dass man Geduld hat und sich langweilt,
Das ist zu simpel. Bah, mein Kummer.
Ich will dramatisch mich vom Sommer
Fesseln lassen an sein Glücksgefährt.
Dass ich an dir so, o Natur,
– Nicht einsam, ah nicht nichts! − oft sterbe.
Statt dass die Schäfer, guter Witz,
Halbwegs verrecken an der Welt.

Ich will mich mürber jeden Monat.
Dir gebe ich, Natur, mich hin;
Samt Hunger und samt allem Durst.
Und bitte dich um Speis und Trank.
Nicht das Geringste kann mich täuschen;
Lacht an die Eltern, wie zur Sonne,
Ich aber will zu gar nichts lachen;
Und frei soll dieses Unglück sein.

Mai 1872.

Der Buëch

Er kommt dir
in der Finsternis
aus dem Schädel
gestürzt, der Fluss,

du hast die Alpen
hinter den Augen,
ihr Schiefergrauen
ein Totholzbrausen.

Die Burg von Serres
geopfert Brückenbau,
Brücken weggerissen,
Hindernis, Hindernis,

hinter deinen Augen
rauscht in dir talwärts
der gestürzte Fluss.
Das Schotterwasser.

Der Zweifel ist nicht mehr erlaubt

So erschütternd wie verwunderlich ist, was Christian Bobin über Jesus von Nazareth schreibt: „Il ne dit pas: aimez-moi. Il dit: aimez-vous. Il y a un abîme entre ces deux paroles. Il est d’un côté de l’abîme et nous restons de l’autre. C’est peut-être le seul homme qui ait jamais vraiment parlé, brisé les liens de la parole et de la séduction, de l’amour et de la plainte.“ Er ist vielleicht der einzige Mensch, der, gekappt die Verbindungen des Worts und der Verführung, der Liebe und der Klage, je wahrhaft gesprochen hat. (Volx, 1.8.)

„Le doute n’est plus permis“, singt Jane Birkin, mit deren Tod mitten in diesem Mistralsommer ein weiterer großer und schöner Teil meiner Welt gestorben ist. Der Zweifel ist nicht mehr erlaubt.

Und Du, Sinéad? Ich wusste gar nicht, dass ich älter war als Du. Jetzt bist Du gestorben, mit 56 Jahren. Gott, was habe ich Dich angehimmelt, Deinen geschorenen Kopf, Deinen existenzialistischen Rollkragenpulli mit dem Badge STOP STARING AT MY TITS – was ich verstand und richtig fand, aber genauso von mir wies, um Dich weiter ansehen zu können. O I’m so sorry for my rapture. Du warst mehr als sexy. Du warst der Inbegriff der Sexyness im Fürstentum meiner Bewunderung. Die Stimme und ihre Verkörperung. Es war schwer, Dich unpolitisch, nicht gesellschaftskritisch zu sehen. O yes, but I did. Poetisch gesehen warst Du und bleibst ein selbsterschaffenes Wesen, wie Prince durch Unbilden dem Business entwachsen. Die Tragik Deines Lebens und Endes ist Deiner Musik eingeschrieben. Du hast mich oft begleitet, oft getröstet, oft erschüttert. Viele Landschaften, durch die ich fahre, verbinde ich, Sinéad, mit Dir. (4.8.23)

Im Gartenpark des Konvents Les Cordeliers breitet ein junger Hippie seine im Brunnen ausgewaschenen Klamotten auf den Heckensträuchern aus. Die Mittagshitze brennt herab auf Forcalquier. Die Birnen und Äpfel reifen in Stunden. Die Ameisen wandern durch die Zeit, und wir, der Hippie und ich, müssen bald sterben, aber noch nicht heute, noch nicht gleich. Er da drüben im Schatten der Hecke mit seinen Anziehsachen darauf und ich hier auf meiner Familiensteinbank im Schatten unter der Platane, wo ich frühstücke, wissen es: So wie alles vergebens ist, so ist nichts verloren.

Das Weiterschreiben, das Weiter-und, weiter-und weitere Schreiben als Trost, für dich und für die, die es angeht und kümmert.

In das am Nachmittag abgedunkelte Straßenzimmer fällt durch die Fensterläden ein Lichtstreif, und darin tanzt ein Firmament aus Staubflocken, nur in diesem schmalen, sich verbreiternden Dreieck – das aber ersichtlich macht: Im ganzen Zimmer tanzen die Sterne aus Staub. (Volx, 8.8.)

Die Kebap-Imbisswirtin ist Türkin oder Kurdin, und sie ist müde wie ihr Mann, der hinten im Lokal auf dem Fußboden schläft. Sie bereitet die Fritten und Falafel zügig zu, sie lächelt und gähnt und trägt ein schwarzes T-Shirt mit dem Paillettenaufdruck QUEEN OF DISCO. (Manosque, Anfang August.)

Danse macabre

Der übergewichtige Junge quält sich auf seinem Miniatur-E-Bike die nächtliche Straße herauf – das E-Bike quält sich an seiner Statt. Er blickt nicht her, so wenig wie sein E-Bike, beide klemmen nur die Zunge zwischen die Zähne, bis sie vorbei sind. (Volx, 24.7.)

Das Knispeln der Wespen in der Schilfbalustrade – die einknickt und zusammenbricht nach drei Sommern des Aufgegessenwerdens und Abtransports durch die Luft.

Du siehst sie – Mücke. Du siehst ihn nicht – Moskito. Du spürst sie – Mücke. Du spürst ihn nicht – Moskito. Du findest sie – Mücke. Du findest ihn nicht – Moskito. Sie giert nach dir – Mücke. Er fühlt sich in dich ein – Moskito.

Wie sich meine Augen ans Dunkel in der nächtlichen Straße gewöhnen, so verwandelt sich mein Empfinden die jährlich zunehmenden Schmerzen an.

Genesis – Duke
Genesis – Abacab
Genesis – Three sides live

Diese winzigen Verbindungsglieder, die überall sind und so unendlich wichtig.

Im Herbst, wenn wir das Haus längst verlassen haben, fallen die reifen, noch an den Zweigen von den Vögeln halb verzehrten Feigen auf die Terrasse, und im Verlauf des Winters, bevor wir wiederkommen, zerfallen sie zu süßem Fleisch und wird der braune Brei davongetragen von den Ameisen und letzten Hornissen. Uns unlesbar, wahrscheinlich bedeutungslos, bleibt auf dem Zement des Garagendachs ein Muster aus weißen Herzen, wie eine Konstellation auf dem vom Regen graugewaschenen Stein – das Sternbild der Feige. Die Feigin. La figuière.

Als das Gitarrenquartett in der Kapelle mitten auf den Feldern anhebt, Saint-Säens’ „Danse macabre“ zu spielen, fällt mit einem Mal das letzte Licht des Tages durch die Glasmalereien. Das grüne, blaue, gelbe und rote Flimmern spielt über die Wände in Fensternähe, und das Wunder besteht darin, dass es zeitgleich mit dem Lied erlischt. (Rocher d’Ongles, 30.7.)

Supertramp – „… famous last words …“

Leute, die vorbeikommen, mitten in der Nacht, die miteinander sprechen, on parle, allez, dann abbiegen und verschwunden sind – der Brunnen in der Dorfmitte, unter der neugepflanzten platane de liberté. Sein Plätschern führt das Gespräch weiter, und ich höre zu.

Die Welt ist voller Lösungen – und voller Idioten.

Im selben Moment, als die Blinde vorbeigeht, hinunter ins Dorf – Mitternacht –, geht die Straßenbeleuchtung aus.

Aus den Rimbaud-Übersetzungen

Bottom

La réalité étant trop épineuse pour mon grand caractère, – je me trouvai néanmoins chez Madame, en gros oiseau gris bleu s’essorant vers les moulures du plafond et traînant l’aile dans les ombres de la soirée.
Je fus, au pied du baldaquin supportant ses bijoux adorés et ses chefs-d’œuvre physiques, un gros ours aux gencives violettes et au poil chenu de chagrin, les yeux aux cristaux et aux argents des consoles.
Tout se fit ombre et aquarium ardent. Au matin, – aube de juin batailleuse, – je courus aux champs, âne, claironnant et brandissant mon grief, jusqu’à ce que les Sabines de la banlieue vinrent se jeter à mon poitrail.

Bottom

Die Wirklichkeit zu dornig für meinen großen Charakter, – fand ich mich dennoch bei Madame wieder, großer graublauer Vogel, der sich zu den Deckenzierleisten emporschwang und durch die abendlichen Schatten den Flügel hinter sich herschleifte.
Zu Füßen des Baldachins, der ihren bewunderten Schmuck und ihre körperlichen Meisterstücke trug, war ich ein großer Bär mit violettem Zahnfleisch und vor Kummer schlohweißem Fell, die Augen aus Kristallen und dem Silber der Konsolen.
Alles wurde zu Schatten und feurigem Aquarium. Am Morgen – kämpferische Junimorgenröte – lief ich auf die Felder, Esel, posaunte los und fuchtelte herum mit meiner Klage, bis die Vorstadtsabinerinnen kamen, um sich mir an die Brust zu werfen.

Keats, Rimbaud und Wilde

London 1873 (2024)

Rimbaud kam vier Tage nach Oscar Wilde auf die Welt, Oscar am 16. Oktober 1854, Arthur am 20., der erste in Dublin, der zweite in Charleville, einer Stadt im äußersten Osten Frankreichs, auf halbem Weg zwischen Lille und Nancy. Rimbaud nannte seinen Geburtsort Charlestown, und der junge Wilde verlebte schöne Sommertage in Charleville, der irischen, wundervoll grünen Landschaft. 1854 war John Keats erst 33 Jahre lang tot. Mit 22, im Alter, als Wilde anfing zu schreiben und Rimbaud Gedichte schon als Spülwasser bezeichnete, schrieb Keats in seine Ausgabe von Miltons „Paradise Lost“ eine Bemerkung an den Rand, eine Frage, die er sich selbst beantwortet. Beide Sätze lauten: „What creates the intense pleasure of not knowing? A sense of independence, of power, from the fancy’s creating a world of its own by the sense of probabilities.“ Frage und Antwort bilden nichts Geringeres als Keats’ eigene, sogar handgeschriebene Definition dessen, was er in einem Brief kurze Zeit später „Negative Capability“ nannte – die das dichterische Gemüt kennzeichnende Negativbefähigung: Der dichterische Mensch ist imstande, Zweifel und Halbwissen nicht nur zu ertragen, sondern fruchtbar zu machen. „Was bringt die intensive Freude am Nichtwissen hervor? Ein Sinn für Unabhängigkeit, für Kraft, der daher rührt, dass die Fantasie kraft des Sinns für Wahrscheinlichkeiten eine eigene Welt hervorbringt.“ Weder Rimbaud noch Wilde kannten die beiden Sätze. Sie müssen ihren Sinn auf andere Weise verinnerlicht haben.

Aus den Rimbaud-Übersetzungen

Départ

Assez vu. La vision s’est rencontrée à tous les airs.
Assez eu. Rumeurs des villes, le soir, et au soleil, et toujours.
Assez connu. Les arrêts de la vie. – Ô Rumeurs et Visions !
Départ dans l’affection et le bruit neufs !

Abfahrt

Genug gesehen. Das Erblickte ist sich in allen Formen begegnet.
Genug gehabt. Rumoren der Städte, abends und bei Sonne und auch sonst.
Genug gekannt. Die Haltestellen im Leben. – O Rumoren und Erblicktes!
Abfahrt in neuer Zuneigung und neuem Lärm!