Hyperoptic2011

„Merkst du, dein Pferd ist tot, steig ab.“ Weisheit der Sioux

Weil er nicht imstande war, sich in diesem Leben zu entfalten, darin behindert vor allem von jenen, an denen er zu lange festhielt, in deren Schatten er zugleich verkümmerte und doch im Innern seinen Groll auswuchs – … weil er nicht fähig war, einen glücklichen Menschen aus sich zu machen, ohne dass andere ihm dazu die Absolution gaben, ließ er die ihm entgegengebrachte Zuneigung an sich abprallen, verhärmte sich, verbarrikadierte sein Herz, bekam kleine, enge, rote Augen, böse kummerpralle Äuglein, und ein aufgedunsenes Mondgesicht auch von den Pillen, die er ablehnte, aber eine Zeitlang schluckte, während er die heimtückische Ironie der Frau, die er liebte oder zu lieben glaubte, stimmlich aufs Vollkommenste nachahmte, und planvoll alles daransetzte, sich bei denen, die ihn vermissten und die er vor den Kopf stieß ein Mal, sieben Mal, immer wieder, unvergesslich zu machen durch die Leerstelle, die in diesem vertanen Leben sein Platz zu sein schien.

Vergangenheit und Zugluft.

Die Londoner W-LAN-Adresse: HYPEROPTIC2011

Ein Mikrowellengerät von Russell Hobbs. (London, 10.7.)

Auch das Keats House in Hampstead ist inzwischen mit Videokameras ausgerüstet. In Keats’ Parlor, seinem Arbeits- und Wohnzimmer, gibt es zudem eine Klanginstallation: Jemand (nicht John Keats) schenkt sich Tee ein, trinkt aus der Tasse, stellt sie ab, tunkt seine Feder ins Tintenfass, schreibt einen Vers der „Ode on Melancholy“. Da wir die Tiefe nicht mehr verstehen und sie deshalb fürchten, klammern wir uns an die Oberfläche, um eine Ahnung davon zu bewahren, was uns verlorenging.

Die Grashügel von Hampstead Heath im Sommerwind sind noch dieselben. (Ja, das Gras ist nicht das gleiche, sondern dasselbe.)

Das alte Zuchthaus von Reading hinter seiner Backsteinmauer wie vor 130 Jahren – am Innenstadtrand, hinter Park und Abtei, nur dass es seit neun Jahren geschlossen ist. Keine Eingeschlossenen mehr hinter der „Rieselwand“, nur noch Ausgeschlossene wie ich. Banksy hat zum Andenken an Oscar Wilde eine Zeichnung an der elenden Wand hinterlassen, ein über die Mauer geworfenes Leintuch, das sich aus einem Schreibmaschinenblatt entwickelt, an dem sich ein Gefangener hinablässt in … die Freiheit? Die Kunst? Das Schrankenlose jedenfalls. Ich kann um Reading Goal herumlaufen – es gibt nur einen einzigen Ein- und Ausgang: das Gefängnistor, dahinter, durch ein Wärter*innen*fenster zu sehen, die Durchfahrt in den Innenhof, auf dem Wilde zwei Jahre lang im Kreis zu trotten hatte. – Der Ort wirkt magnetisch. Er ist ein Kraftfeld, doch wohl nur, sobald man weiß, dass hinter dieser Mauer „De Profundis“ entstanden ist und ein Ausgestoßener, einer der erstaunlichsten Dichter aller Zeiten, allein kraft seines Schreibens überlebte und sich wandelte zu dem, was Wilde „nicht einen besseren, sondern einen tieferen Menschen“ nennt. (Reading, 11. Juli 23)