Hinweise für Häuser

Tor in Ostia (2023)


Ostia Antica – die Bäume bist du, die Ruinen bin ich. Überall zwischen den nackten roten Steinen und Ziegeln der Duft nach Zitronenmelisse und Wildem Majoran.

Die eine innige Begegnung in Rom: Auf die Maschendrahtbalustrade der Dachterrasse, wo ich lese und rauche, setzt sich ein handgroßer grüner Papagei und ruft mich dazu auf, ihn zu beachten. „Was willst du?“, frage ich ihn, und er schreit noch lauter, mit großen, glänzend schwarzen Augen. „Soll ich dir was vorlesen? Magst du Oscar Wilde?“ Als ich mich kurz abwende und in dem Buch blättere, ist er verschwunden, ein grünes Loch dort, wo er saß. (Rom, 23.9.)

Warum ist jeder Lastwagen, der aus dem Dunkel auftaucht, ein Ungeheuer?

Unter dem Hochbahnviadukt flattern ein Dutzend Tauben auf – als würde die über 100 Jahre alte Stahlbrücke endlich – ja! – lebendig werden, Vögel werden. (10.10.)

„Wir können noch mehr Lärm vertragen!“, rufe ich den Handwerkern zu, als ihr stunden-, tage-, wochenlanges Hämmern und Fräsen endlich – ja! – verstummt. „Kannste haben!“, ruft einer zurück. Und ich: „Dann los! Worauf wartet ihr Bekloppten?“ – „Gleich komm ich rauf zu dir!“ – „Vergiss aber deinen Presslufthammer nicht, Pressluftmann!“ Wohin ich auch ziehe, das Gerüst steht schon ums Haus und erwartet mich. In welchem Zimmer ich auch sitze und zu schreiben versuche, die Gerüstbauer starren zu den Fenstern herein und warten darauf, die Maurer rufen zu können.

Hinweise für ein Haus.

67 Jahre Glastransport.

Die Spatzen im Gras der winzigen Raststättengrünfläche – hüpfende Erdhügel. (Bourg-en-Bresse, 19.10.)

Misstrauensbildende Maßnahmen.

Im Grunde frage ich mich jeden Tag: „Wer bist du?“

Die Unterwegsbahnhöfe.

Wie schnell sich Augen an das Dunkel gewöhnen, zeigt, wie langsam sich das Dunkel an Augen gewöhnt.

Das letzte Licht, das auf eine Baumkrone fällt: Erinnerung an ihre Blüten.

Stufen in Ostia (2023)

Endlich: Konflikte mit Wildtieren

Die Ecke verpufft dann wirkungslos. Geliebte Fußballsprache.

Zwischen zwei Gewittern.

Endlich: Unter einem Vorstadtparkplatz das Regentropfenpräludium gehört. Endlich: Der junge Pianist aß während seiner einführenden Worte eine Crêpe.

„What good is love / Mmm, that no one shares“ Clyde Otis

Endlich: Der Audi mit aufgeklappter Hecktür wirkt abgesägt.

„Willst du den Kaffee schwarz wie meine Seele oder blass wie eine Blondine“, fragt mich der Mensch hinter dem Tresen bei Starbuck’s. Ob er Moby-Dick gelesen hat?

Ein Krähensprichwort: Jede Taube eine taube Nuss.

Werde Bierkutscher.

Ein Weg zurück in die Kindheit.

Ich habe keinen Schatten mehr, weiß, wusste wohl immer schon zuviel von ihm. Jetzt ist er aufgebraucht.

Endlich: Konflikte mit Wildtieren.

Wie in weißen Lack gefallene Eichhörnchen klettern und sitzen die Maler auf dem Gerüst, das ums Haus läuft.

In der Erstausgabe von Peter Handkes „Das Gewicht der Welt“, die ich auf dem Flohmarkt kaufe (2 €), steckt ein handschriftlicher Zettel: „Holzschläger / Grays Light Blue Super“. (16.9.)

Schreiben: den Schmerz zu spüren, ihn auszuhalten und zu verwandeln, was Schreiben heute bedeutet. (18.9.23)

Meine erste Zementarbeit

Meine erste Zementarbeit – es wurde Zeit. Den Sockel der Haustür, zermürbt von den Herbst- und Winterregenfällen, rissig von den Vibrationen des zunehmenden Autoverkehrs im Ort, habe ich erneuert. Den Zement selbst angerührt, aufgetragen, verstrichen und geschmirgelt. Ein Werk für keine Ewigkeit, aber dem alten guten Haus angemessen.

Der Leonidenregen.

Ich forme und füge, fülle, falte, falze und verbinde – mit meiner Zauberhand aus Zement.

Geschichten von den Überresten aus dem Plastikzeitalter.

Schuhe aus Beton.

Zehn Minuten für einen Kuss.

Der Streik der Sterne.

Die augenblicklichen Fische.

An einem großen Gitter im Gegenlicht hängen festgeklammert mit Händen und Füßen ein halbes Dutzend Jugendliche. Hinter dem Gitter liegt ein kleiner grüner Badesee. Es ist 40 Grad heiß, und der See wird gespeist aus dem Quellwasser der eiskalten Sorgue. (Fontaine de Vaucluse)

Ophelias Reisekosten.

Aus den Rimbaud-Übersetzungen

Bannières de mai

Aux branches claires des tilleuls
Meurt un maladif hallali.
Mais des chansons spirituelles
Voltigent parmi les groseilles
Que notre sang rie en nos veines,
Voici s’enchevêtrer les vignes.
Le ciel est joli comme un ange,
L’azur et l’onde communient.
Je sors. Si un rayon me blesse
Je succomberai sur la mousse.

Qu’on patiente et qu’on s’ennuie
C’est trop simple. Fi de mes peines.
Je veux que l’été dramatique
Me lie à son char de fortune.
Que par toi beaucoup, ô Nature,
− Ah moins seul et moins nul ! − je meure.
Au lieu que les Bergers, c’est drôle,
meurent à peu près par le monde.

Je veux bien que les saisons m’usent.
À toi, Nature, je me rends ;
Et ma faim et toute ma soif.
Et, s’il te plaît, nourris, abreuve.
Rien de rien ne m’illusionne ;
C’est rire aux parents, qu’au soleil,
Mais moi je ne veux rire à rien ;
Et libre soit cette infortune.

Mai 1872.

Maibanner

An den helllichten Lindenzweigen
Verendet elend ein Halali.
Geistliche Lieder aber schwirren
Da zwischen den Johannisbeeren,
Dass uns das Blut lacht in den Adern,
Sieh nur den Wirrwarr Weinberg an.
Der Himmel ist hübsch wie ein Engel,
Azur und Fließen werden eins.
Ich geh. Falls mich ein Strahl erfasst,
Krepiere ich halt auf dem Moos.

Dass man Geduld hat und sich langweilt,
Das ist zu simpel. Bah, mein Kummer.
Ich will dramatisch mich vom Sommer
Fesseln lassen an sein Glücksgefährt.
Dass ich an dir so, o Natur,
– Nicht einsam, ah nicht nichts! − oft sterbe.
Statt dass die Schäfer, guter Witz,
Halbwegs verrecken an der Welt.

Ich will mich mürber jeden Monat.
Dir gebe ich, Natur, mich hin;
Samt Hunger und samt allem Durst.
Und bitte dich um Speis und Trank.
Nicht das Geringste kann mich täuschen;
Lacht an die Eltern, wie zur Sonne,
Ich aber will zu gar nichts lachen;
Und frei soll dieses Unglück sein.

Mai 1872.

Der Buëch

Er kommt dir
in der Finsternis
aus dem Schädel
gestürzt, der Fluss,

du hast die Alpen
hinter den Augen,
ihr Schiefergrauen
ein Totholzbrausen.

Die Burg von Serres
geopfert Brückenbau,
Brücken weggerissen,
Hindernis, Hindernis,

hinter deinen Augen
rauscht in dir talwärts
der gestürzte Fluss.
Das Schotterwasser.

Der Zweifel ist nicht mehr erlaubt

So erschütternd wie verwunderlich ist, was Christian Bobin über Jesus von Nazareth schreibt: „Il ne dit pas: aimez-moi. Il dit: aimez-vous. Il y a un abîme entre ces deux paroles. Il est d’un côté de l’abîme et nous restons de l’autre. C’est peut-être le seul homme qui ait jamais vraiment parlé, brisé les liens de la parole et de la séduction, de l’amour et de la plainte.“ Er ist vielleicht der einzige Mensch, der, gekappt die Verbindungen des Worts und der Verführung, der Liebe und der Klage, je wahrhaft gesprochen hat. (Volx, 1.8.)

„Le doute n’est plus permis“, singt Jane Birkin, mit deren Tod mitten in diesem Mistralsommer ein weiterer großer und schöner Teil meiner Welt gestorben ist. Der Zweifel ist nicht mehr erlaubt.

Und Du, Sinéad? Ich wusste gar nicht, dass ich älter war als Du. Jetzt bist Du gestorben, mit 56 Jahren. Gott, was habe ich Dich angehimmelt, Deinen geschorenen Kopf, Deinen existenzialistischen Rollkragenpulli mit dem Badge STOP STARING AT MY TITS – was ich verstand und richtig fand, aber genauso von mir wies, um Dich weiter ansehen zu können. O I’m so sorry for my rapture. Du warst mehr als sexy. Du warst der Inbegriff der Sexyness im Fürstentum meiner Bewunderung. Die Stimme und ihre Verkörperung. Es war schwer, Dich unpolitisch, nicht gesellschaftskritisch zu sehen. O yes, but I did. Poetisch gesehen warst Du und bleibst ein selbsterschaffenes Wesen, wie Prince durch Unbilden dem Business entwachsen. Die Tragik Deines Lebens und Endes ist Deiner Musik eingeschrieben. Du hast mich oft begleitet, oft getröstet, oft erschüttert. Viele Landschaften, durch die ich fahre, verbinde ich, Sinéad, mit Dir. (4.8.23)

Im Gartenpark des Konvents Les Cordeliers breitet ein junger Hippie seine im Brunnen ausgewaschenen Klamotten auf den Heckensträuchern aus. Die Mittagshitze brennt herab auf Forcalquier. Die Birnen und Äpfel reifen in Stunden. Die Ameisen wandern durch die Zeit, und wir, der Hippie und ich, müssen bald sterben, aber noch nicht heute, noch nicht gleich. Er da drüben im Schatten der Hecke mit seinen Anziehsachen darauf und ich hier auf meiner Familiensteinbank im Schatten unter der Platane, wo ich frühstücke, wissen es: So wie alles vergebens ist, so ist nichts verloren.

Das Weiterschreiben, das Weiter-und, weiter-und weitere Schreiben als Trost, für dich und für die, die es angeht und kümmert.

In das am Nachmittag abgedunkelte Straßenzimmer fällt durch die Fensterläden ein Lichtstreif, und darin tanzt ein Firmament aus Staubflocken, nur in diesem schmalen, sich verbreiternden Dreieck – das aber ersichtlich macht: Im ganzen Zimmer tanzen die Sterne aus Staub. (Volx, 8.8.)

Die Kebap-Imbisswirtin ist Türkin oder Kurdin, und sie ist müde wie ihr Mann, der hinten im Lokal auf dem Fußboden schläft. Sie bereitet die Fritten und Falafel zügig zu, sie lächelt und gähnt und trägt ein schwarzes T-Shirt mit dem Paillettenaufdruck QUEEN OF DISCO. (Manosque, Anfang August.)

Danse macabre

Der übergewichtige Junge quält sich auf seinem Miniatur-E-Bike die nächtliche Straße herauf – das E-Bike quält sich an seiner Statt. Er blickt nicht her, so wenig wie sein E-Bike, beide klemmen nur die Zunge zwischen die Zähne, bis sie vorbei sind. (Volx, 24.7.)

Das Knispeln der Wespen in der Schilfbalustrade – die einknickt und zusammenbricht nach drei Sommern des Aufgegessenwerdens und Abtransports durch die Luft.

Du siehst sie – Mücke. Du siehst ihn nicht – Moskito. Du spürst sie – Mücke. Du spürst ihn nicht – Moskito. Du findest sie – Mücke. Du findest ihn nicht – Moskito. Sie giert nach dir – Mücke. Er fühlt sich in dich ein – Moskito.

Wie sich meine Augen ans Dunkel in der nächtlichen Straße gewöhnen, so verwandelt sich mein Empfinden die jährlich zunehmenden Schmerzen an.

Genesis – Duke
Genesis – Abacab
Genesis – Three sides live

Diese winzigen Verbindungsglieder, die überall sind und so unendlich wichtig.

Im Herbst, wenn wir das Haus längst verlassen haben, fallen die reifen, noch an den Zweigen von den Vögeln halb verzehrten Feigen auf die Terrasse, und im Verlauf des Winters, bevor wir wiederkommen, zerfallen sie zu süßem Fleisch und wird der braune Brei davongetragen von den Ameisen und letzten Hornissen. Uns unlesbar, wahrscheinlich bedeutungslos, bleibt auf dem Zement des Garagendachs ein Muster aus weißen Herzen, wie eine Konstellation auf dem vom Regen graugewaschenen Stein – das Sternbild der Feige. Die Feigin. La figuière.

Als das Gitarrenquartett in der Kapelle mitten auf den Feldern anhebt, Saint-Säens’ „Danse macabre“ zu spielen, fällt mit einem Mal das letzte Licht des Tages durch die Glasmalereien. Das grüne, blaue, gelbe und rote Flimmern spielt über die Wände in Fensternähe, und das Wunder besteht darin, dass es zeitgleich mit dem Lied erlischt. (Rocher d’Ongles, 30.7.)

Supertramp – „… famous last words …“

Leute, die vorbeikommen, mitten in der Nacht, die miteinander sprechen, on parle, allez, dann abbiegen und verschwunden sind – der Brunnen in der Dorfmitte, unter der neugepflanzten platane de liberté. Sein Plätschern führt das Gespräch weiter, und ich höre zu.

Die Welt ist voller Lösungen – und voller Idioten.

Im selben Moment, als die Blinde vorbeigeht, hinunter ins Dorf – Mitternacht –, geht die Straßenbeleuchtung aus.

Aus den Rimbaud-Übersetzungen

Bottom

La réalité étant trop épineuse pour mon grand caractère, – je me trouvai néanmoins chez Madame, en gros oiseau gris bleu s’essorant vers les moulures du plafond et traînant l’aile dans les ombres de la soirée.
Je fus, au pied du baldaquin supportant ses bijoux adorés et ses chefs-d’œuvre physiques, un gros ours aux gencives violettes et au poil chenu de chagrin, les yeux aux cristaux et aux argents des consoles.
Tout se fit ombre et aquarium ardent. Au matin, – aube de juin batailleuse, – je courus aux champs, âne, claironnant et brandissant mon grief, jusqu’à ce que les Sabines de la banlieue vinrent se jeter à mon poitrail.

Bottom

Die Wirklichkeit zu dornig für meinen großen Charakter, – fand ich mich dennoch bei Madame wieder, großer graublauer Vogel, der sich zu den Deckenzierleisten emporschwang und durch die abendlichen Schatten den Flügel hinter sich herschleifte.
Zu Füßen des Baldachins, der ihren bewunderten Schmuck und ihre körperlichen Meisterstücke trug, war ich ein großer Bär mit violettem Zahnfleisch und vor Kummer schlohweißem Fell, die Augen aus Kristallen und dem Silber der Konsolen.
Alles wurde zu Schatten und feurigem Aquarium. Am Morgen – kämpferische Junimorgenröte – lief ich auf die Felder, Esel, posaunte los und fuchtelte herum mit meiner Klage, bis die Vorstadtsabinerinnen kamen, um sich mir an die Brust zu werfen.

Keats, Rimbaud und Wilde

London 1873 (2024)

Rimbaud kam vier Tage nach Oscar Wilde auf die Welt, Oscar am 16. Oktober 1854, Arthur am 20., der erste in Dublin, der zweite in Charleville, einer Stadt im äußersten Osten Frankreichs, auf halbem Weg zwischen Lille und Nancy. Rimbaud nannte seinen Geburtsort Charlestown, und der junge Wilde verlebte schöne Sommertage in Charleville, der irischen, wundervoll grünen Landschaft. 1854 war John Keats erst 33 Jahre lang tot. Mit 22, im Alter, als Wilde anfing zu schreiben und Rimbaud Gedichte schon als Spülwasser bezeichnete, schrieb Keats in seine Ausgabe von Miltons „Paradise Lost“ eine Bemerkung an den Rand, eine Frage, die er sich selbst beantwortet. Beide Sätze lauten: „What creates the intense pleasure of not knowing? A sense of independence, of power, from the fancy’s creating a world of its own by the sense of probabilities.“ Frage und Antwort bilden nichts Geringeres als Keats’ eigene, sogar handgeschriebene Definition dessen, was er in einem Brief kurze Zeit später „Negative Capability“ nannte – die das dichterische Gemüt kennzeichnende Negativbefähigung: Der dichterische Mensch ist imstande, Zweifel und Halbwissen nicht nur zu ertragen, sondern fruchtbar zu machen. „Was bringt die intensive Freude am Nichtwissen hervor? Ein Sinn für Unabhängigkeit, für Kraft, der daher rührt, dass die Fantasie kraft des Sinns für Wahrscheinlichkeiten eine eigene Welt hervorbringt.“ Weder Rimbaud noch Wilde kannten die beiden Sätze. Sie müssen ihren Sinn auf andere Weise verinnerlicht haben.

Aus den Rimbaud-Übersetzungen

Départ

Assez vu. La vision s’est rencontrée à tous les airs.
Assez eu. Rumeurs des villes, le soir, et au soleil, et toujours.
Assez connu. Les arrêts de la vie. – Ô Rumeurs et Visions !
Départ dans l’affection et le bruit neufs !

Abfahrt

Genug gesehen. Das Erblickte ist sich in allen Formen begegnet.
Genug gehabt. Rumoren der Städte, abends und bei Sonne und auch sonst.
Genug gekannt. Die Haltestellen im Leben. – O Rumoren und Erblicktes!
Abfahrt in neuer Zuneigung und neuem Lärm!

Geheimkonferenz der Hässlichkeit

Das Akronym AfD habe ich vor etwa zweieinhalb Jahren, als ich meinen Roman „Alle ungezählten Sterne“ schrieb, mit „Angst für Dumme“ übersetzt, ein Euphemismus, den ich heute, in diesem bitterkalten Januar 2024, vermiede und für den ich mich schäme. Mein Romantitel stellt seinerseits, neben seiner in der Handlung und im Denken und Fühlen meiner Figuren verankerten Metaphorik, ein Akronym dar: „Alle ungezählten Sterne“ steht, da es um die Lebensbilanz meines Erzählers geht, auch für dessen Aus.
Die Hetze der selbsternannten „Alternative für Deutschland“ hat in der aufgedeckten Potsdamer Geheimkonferenz die Hässlichkeit ihrer Fratze in aller Deutlichkeit gezeigt. Diese Alternative, das sollte nun jedem Menschen klar sein, der sehen kann, ist keine verkappt, sondern eine offen neofaschistische. Das Ansinnen dieser Leute, die keine Menschen sind, da sie nichts Menschliches an sich haben, gründet auf Herabwürdigung und Verächtlichkeit. Erbarmungslos hat sie Ausgrenzung und Abschiebung, Spaltung und Säuberung zum Ziel.
Niemand, der morgen nicht in einer Diktatur aufwachen will, sollte sich mit Beginn dieses bitterkalten Jahres schlafen legen, um schweigen zu können. Zum ersten Mal, seit ich denken kann, hat der nie vergangene, der stets latente deutsche Fremdenhass Einzug gehalten in bis heute für integer gehaltene Kreise von Kultur, Kunst, Literatur, Musik und deren Betriebe und Verwaltungen. Das braune Netzwerk breitet sich darin mühelos aus, da es überall Ansprechpartner und Ansprechpartnerinnen findet. Der endlich erwachte Widerstand durch große, wenngleich noch viel zu geringe Teile der Bevölkerung macht mir Mut und gibt mir Zuversicht. Ich hoffe, auch die Künste wachen jetzt auf aus ihrem Corona-Dämmer und Profitschlummer und stellen, ohne sich zu verleugnen und ohne sich zu instrumentalisieren, eine unmissverständlich menschliche Barrikade auf.
Erinnert sei an Klaus Mann, der vor genau 90 Jahren seinen ersten Exilroman veröffentlichte, „Flucht in den Norden“, in dem es gegen Ende hin über unser Land heißt: „Es ist so lächerlich unbegabt für das Leben, dieses Volk mit seiner dünkelhaften Extraproblematik, daß es niemals, niemals eingetreten ist in den Kreis der Zivilisation. Das ist der Grund, das ist der einzige Grund, warum es unsere Zivilisation bedroht, zu der es den Zutritt nicht hat. Und nun ist es wieder einmal aufgestanden und will alles kaputtschlagen, und alle Welt muß zittern und sich Sorgen machen und höflich sein mit diesen bösen Narren. Was für ein Volk! Pfui, es macht ja eine große Übelkeit, sich’s vorzustellen – ekelhafd ist es, an ihre Tüchtigkeit zu denken, die sich immer in den Dienst der Gemeinheit begeben hat, an all ihr Talent, das kein moralisches Rückgrat besitzt. Wenn mir ihre Professoren und Zeitungsleute einfallen, wird mir womöglich noch übler, als wenn ich mir ihre Generale und Henker ausmale, denen die Professoren eine ,Weltanschauung‘ liefern, gebrauchsfertig, in tadelloser Verpackung. Und nun, da dieses Volk endlich das dünne Mäntelchen abwirft, das es bis jetzt noch pro forma vor seine kolossalische Mißratenheit halten mochte, und da es nun hervorspringt in seiner ganzen unseligen Frechheit – warum sollte man denn da so sehr den Überraschten spielen?! Das ist keine Überraschung für einen, der zu sehen verstand.“

The boy who ran down to the docks

„Roger Shattuck entwickelte im Gespräch mit John Cage die Theorie, dass der Ursprung für Saties Sinn für musikalische Rhythmen und die Möglichkeiten von Variationen innerhalb der Wiederholung, für den Effekt von Langeweile im Organismus in seinen endlosen Fußmärschen in der immergleichen Landschaft, tagein, tagaus, hin und her, zu suchen sei. Ich wollte genau die Strecke gehen, und das nur, um mir Notizen zu machen: Ich wollte ein Buch über das Gehen schreiben, das war eine gute Idee, die Wahrheit lautete, sie interessierte mich nicht mehr. Ich nahm den Zug aus der Stadt. (…) Ich vergaß Erik Satie, das Paris, durch das er gegangen und in dem er zu Hause gewesen war, gab es nicht mehr. (…) Was hatte ich erwartet? Wiesen und Gras? Pferde und Felder, Stille und Idylle? Die Musik der Gegenwart hatte längst Schnelligkeit und Lärm, Großstadt und Verkehr in sich aufgesogen, ich bewegte mich in einer imaginierten Vergangenheit, in einer Stadt, die es nicht mehr gab, ich folgte einem gewissen Monsieur Satie, einem Gespenst im braunen Samtanzug, mit einer Schirmmütze auf dem Kopf. Ich war eine lächerliche Gestalt.“ Tomas Espedal, aus „Gehen oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen“, Matthes & Seitz, Berlin 2011.

Vage Erinnerungen – Tautologie. Viel, woran du noch denkst und was du vergeblich wiederzufinden versuchst, ist unerinnerbar, ist Unerinnerung. (Bury St. Edmonds, 15.7.)

Noch einmal in Greenstead Green.

38 Jahre später besitzt das Gainsborough House in Sudbury einen technifizierten dreistöckigen Anbau, von dessen Dachgeschoss aus du über das ganze Städtchen blickst – und in dem, anders als in Benns Elternhaus, Gainsboroughs hängen, wenn auch sehr wenige und unbedeutende echte. Da ist mit einem Mal ein Café mit veganem Raspberry Cake in dem Garten, der in meiner Erinnerung ein alter Innenhof, ein alter Erinnerungshof war. Im ersten Stock ein Spinettlautsprecher. Als Junge hat mich hier die verfallene Wucht der Bilder in eine vergangene Zeit gehoben, und nirgends finde ich sie wieder als in den Fetzen, die von der Plakatsäule meines Gedächtnisses hängen und die schon Thomas Gainsborough gemalt hat.

„When they blitzed London I was a boy and ran down to the docks“, sagt der Alte neben mir in Westminster Abbey zu seinem Sohn aus Tennessee.

Bishop Stephen Conway verlässt die Kathedrale von Ely – sie ist 1300 Jahre alt – und übergibt Stab und Tiara seinem Nachfolger. Am Ende seiner letzten Predigt – ich sitze zufällig unter den Zuhörern und harre anderthalb Stunden lang aus, ehe wir flüchten – weint der beleibte Bischof mit dem freundlichen, teigigen Gesicht, entschuldigt sich und weint weiter. Er habe, heißt es in den endlosen Dankreden und Fürbitten, die sich anschließen, die Temperatur in ganz Suffolk gesteigert, sodass im Winter sogar das Wasser aus den Hähnen wärmer gewesen sei. (Cambridge, 17.7.)

Hyperoptic2011

„Merkst du, dein Pferd ist tot, steig ab.“ Weisheit der Sioux

Weil er nicht imstande war, sich in diesem Leben zu entfalten, darin behindert vor allem von jenen, an denen er zu lange festhielt, in deren Schatten er zugleich verkümmerte und doch im Innern seinen Groll auswuchs – … weil er nicht fähig war, einen glücklichen Menschen aus sich zu machen, ohne dass andere ihm dazu die Absolution gaben, ließ er die ihm entgegengebrachte Zuneigung an sich abprallen, verhärmte sich, verbarrikadierte sein Herz, bekam kleine, enge, rote Augen, böse kummerpralle Äuglein, und ein aufgedunsenes Mondgesicht auch von den Pillen, die er ablehnte, aber eine Zeitlang schluckte, während er die heimtückische Ironie der Frau, die er liebte oder zu lieben glaubte, stimmlich aufs Vollkommenste nachahmte, und planvoll alles daransetzte, sich bei denen, die ihn vermissten und die er vor den Kopf stieß ein Mal, sieben Mal, immer wieder, unvergesslich zu machen durch die Leerstelle, die in diesem vertanen Leben sein Platz zu sein schien.

Vergangenheit und Zugluft.

Die Londoner W-LAN-Adresse: HYPEROPTIC2011

Ein Mikrowellengerät von Russell Hobbs. (London, 10.7.)

Auch das Keats House in Hampstead ist inzwischen mit Videokameras ausgerüstet. In Keats’ Parlor, seinem Arbeits- und Wohnzimmer, gibt es zudem eine Klanginstallation: Jemand (nicht John Keats) schenkt sich Tee ein, trinkt aus der Tasse, stellt sie ab, tunkt seine Feder ins Tintenfass, schreibt einen Vers der „Ode on Melancholy“. Da wir die Tiefe nicht mehr verstehen und sie deshalb fürchten, klammern wir uns an die Oberfläche, um eine Ahnung davon zu bewahren, was uns verlorenging.

Die Grashügel von Hampstead Heath im Sommerwind sind noch dieselben. (Ja, das Gras ist nicht das gleiche, sondern dasselbe.)

Das alte Zuchthaus von Reading hinter seiner Backsteinmauer wie vor 130 Jahren – am Innenstadtrand, hinter Park und Abtei, nur dass es seit neun Jahren geschlossen ist. Keine Eingeschlossenen mehr hinter der „Rieselwand“, nur noch Ausgeschlossene wie ich. Banksy hat zum Andenken an Oscar Wilde eine Zeichnung an der elenden Wand hinterlassen, ein über die Mauer geworfenes Leintuch, das sich aus einem Schreibmaschinenblatt entwickelt, an dem sich ein Gefangener hinablässt in … die Freiheit? Die Kunst? Das Schrankenlose jedenfalls. Ich kann um Reading Goal herumlaufen – es gibt nur einen einzigen Ein- und Ausgang: das Gefängnistor, dahinter, durch ein Wärter*innen*fenster zu sehen, die Durchfahrt in den Innenhof, auf dem Wilde zwei Jahre lang im Kreis zu trotten hatte. – Der Ort wirkt magnetisch. Er ist ein Kraftfeld, doch wohl nur, sobald man weiß, dass hinter dieser Mauer „De Profundis“ entstanden ist und ein Ausgestoßener, einer der erstaunlichsten Dichter aller Zeiten, allein kraft seines Schreibens überlebte und sich wandelte zu dem, was Wilde „nicht einen besseren, sondern einen tieferen Menschen“ nennt. (Reading, 11. Juli 23)

Die goldene Pistole

Immer ist da irgendeiner, der liebt Gold
-barren, -boudoirs & -badewannen, immer
versteckt sich ein Diktator in einer Betonröhre
& ruft „Bitte schießt nicht“, ein Hohepriester,
der falsche Posen & Wappen einstudierte,
die Elixiere nach dem Bad in zähflüssigen
Ölen des Bedauerns, die zig-fach potenzierte
Lebensdauer von Talismanen & Amuletten,
Plündern von Safes & Intarsienschmuckkästen,
Mondlicht auf Schwefel, Himmelschluckerfeuer,
& deswegen bricht es mir beinahe das Herz,
wenn ein Mann tanzt, der Gaddafis Pistole
in die Höhe reckt & dabei weiß, die Sonne
folgt allem Glänzen, & indes das Junge
älter wird, lacht da immer ein Rabe
auf dem Pfosten eines Eisentors.

*
Aus: Yusef Komunyakaa, Der Gott der Landminen
Übersetzt aus dem Englischen und mit einem Nachwort von
Mirko Bonné, Edition Lyrik Kabinett bei Hanser, München 2024

The Gold Pistol

Was erreicht Chandler, wenn er einer Figur „die moralische Statur einer Verkehrsampel“ attestiert? Abgesehen von seinem schönen und tiefen Witz – rüttelt das Bild wach, denkt man darüber nach und bezieht es gar auf sich selbst? Ist es mehr als das Aufleuchten eines Streichholzes und sein Verglimmen im Dunkel?

O Bamberg, deine gegeneinander schaukelnden Kleiderbügel klingen nach Glocken. (26.4.)

„Das Dunkel ist ein Ort, das Licht ein Weg.“ Dylan Thomas

Vor dem Haus knospen die beiden Platanen, sobald die benachbarten Kastanien nur blühen – sie haben abgewartet. Und wie die Knospen an den Bäumen kommen die Leute aus ihren Winterbuden und setzen sich vor die Cafés.

„Wir liegen alle in der Gosse, aber ein paar von uns sehen wenigstens die Sterne“, schreibt Oscar Wilde in seinem Stück „Lady Windermeres Fächer“ – wo das ein Mann über Männer sagt.

Am Morgen hat sich die getigerte in eine schwarze Katze verwandelt. (Paris, 16. Mai)

Krass, wie sie mich aufwühlt und zum Nachdenken bringt, oder vielmehr: nicht nur zum Denken, sondern auch zum Nachfühlen: Yusef Komunyakaas Dichtung. Nur bin ich mir nicht sicher, ob das wirklich noch, ob das wirkliche Poesie ist. Nein, schon indem ich das schreibe, fühle und weiß ich deshalb, dass ich mich irre: Und zieht Komunyakaa seine Antihaltung auch bis aufs Letzte durch, so ohne den hohen Ton oder den archaischen Ton, ohne das Gedicht in seiner Überlieferungsvielfalt unter dem Vorwand einer différance kaputtzuschreiben oder sich gar darüber spottend erheben zu wollen.

Komunyakaas Personae, die bis ins alte Ägypten zurückreichen, bis in die afrikanischen Kulturen voller Tier- und Naturgottheiten – wieso schreibt er nicht über Ezra Pound, klammert ihn regelrecht aus? So vieles könnte er spiegeln, der fast Gestorbene. Je tiefer ich mich einlese, umso stärker das Gefühl von einem Vorwand des Politischen, wo Komunyakaa die Grenzen doch erst wirklich durchbrechen könnte, würde seine Poesie nur mehr hinnehmen – und reflektieren –, z. B. Pounds Affronts.

In dieser Woche in Paris las ich immer wieder und übersetzte schließlich Yusef Komunyakaas Gedicht „The Gold Pistol“ über Umtriebe und Ende Gaddafis. Wie zum Glück noch immer in solchen von der intensivsten Lektüre verlebendigten Momenten hatte in ihrem Atelier in der Rue Daguerre die Malerin mit den lächelnden Augen und dem beständigen „Oui, oui, oui!“ auf den Lippen die Nachbildung eines goldenen Colts liegen – ein Spielzeug ihres Sohnes, wie sie meinte, ein James Bond-Gimmick.

The Gold Pistol

There’s always someone who loves gold
bullion, boudoirs, & bathtubs, always
some dictator hiding in a concrete culvert
crying, Please don’t shoot, a high priest
who mastered false acts & blazonry,
the drinking of a potion after bathing
in slow oils of regret, talismans, & amulets
honed to several lifetimes of their own,
the looting of safes & inlaid boxes of jewels,
moonlight on brimstone, fires eating sky,
& this is why my heart almost breaks
when a man dances with Gaddafi’s pistol
raised over his head, knowing the sun
runs to whatever shines, & as the young
grows old, there’s always a raven
laughing on an iron gatepost.

Aus: Yusef Komunyakaa, The Emperor of Water Clocks,
Farrar, Straus and Giroux, New York 2015

Ryan O’Neal

Es gab Kostüme und Kulissen,
die stärker als er selber waren.
Verloren hatte er sich aber nie.
Er fühlte nichts verschwinden.

Er liebte. Schnee seit Love Story.
Am Meer bei Malibu erfand er sich.
Er war der Driver, der verstummte,
und blieb doch immer Barry Lyndon.

Was war da, fragte er sich über drei
Jahrzehnte, 17 Filme lang, wer trug
Duelle aus mit Kindern, seinem Blut,
um sich danach nicht mehr zu finden.

Er mit gepuderter Perücke in Berlin.
Zum Flackern einer Kerze abgefilmt
im Zimmer eines Rokokogemäldes
– als wäre Welt nicht schon zu viel.

Vielleicht war Zeit für Kubrick Speed.
Das sollten Klügere als er ergründen.
Er fühlte nichts. Seit 1775 gab es kein
Entrinnen, keine Tür für Ryan O’Neal.

*

Zum Tod von Ryan O’Neal (1941–2023)
Erschienen in
Traklpark
Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2012