Hinweise für Häuser

Tor in Ostia (2023)


Ostia Antica – die Bäume bist du, die Ruinen bin ich. Überall zwischen den nackten roten Steinen und Ziegeln der Duft nach Zitronenmelisse und Wildem Majoran.

Die eine innige Begegnung in Rom: Auf die Maschendrahtbalustrade der Dachterrasse, wo ich lese und rauche, setzt sich ein handgroßer grüner Papagei und ruft mich dazu auf, ihn zu beachten. „Was willst du?“, frage ich ihn, und er schreit noch lauter, mit großen, glänzend schwarzen Augen. „Soll ich dir was vorlesen? Magst du Oscar Wilde?“ Als ich mich kurz abwende und in dem Buch blättere, ist er verschwunden, ein grünes Loch dort, wo er saß. (Rom, 23.9.)

Warum ist jeder Lastwagen, der aus dem Dunkel auftaucht, ein Ungeheuer?

Unter dem Hochbahnviadukt flattern ein Dutzend Tauben auf – als würde die über 100 Jahre alte Stahlbrücke endlich – ja! – lebendig werden, Vögel werden. (10.10.)

„Wir können noch mehr Lärm vertragen!“, rufe ich den Handwerkern zu, als ihr stunden-, tage-, wochenlanges Hämmern und Fräsen endlich – ja! – verstummt. „Kannste haben!“, ruft einer zurück. Und ich: „Dann los! Worauf wartet ihr Bekloppten?“ – „Gleich komm ich rauf zu dir!“ – „Vergiss aber deinen Presslufthammer nicht, Pressluftmann!“ Wohin ich auch ziehe, das Gerüst steht schon ums Haus und erwartet mich. In welchem Zimmer ich auch sitze und zu schreiben versuche, die Gerüstbauer starren zu den Fenstern herein und warten darauf, die Maurer rufen zu können.

Hinweise für ein Haus.

67 Jahre Glastransport.

Die Spatzen im Gras der winzigen Raststättengrünfläche – hüpfende Erdhügel. (Bourg-en-Bresse, 19.10.)

Misstrauensbildende Maßnahmen.

Im Grunde frage ich mich jeden Tag: „Wer bist du?“

Die Unterwegsbahnhöfe.

Wie schnell sich Augen an das Dunkel gewöhnen, zeigt, wie langsam sich das Dunkel an Augen gewöhnt.

Das letzte Licht, das auf eine Baumkrone fällt: Erinnerung an ihre Blüten.

Stufen in Ostia (2023)

Keats, Rimbaud und Wilde

London 1873 (2024)

Rimbaud kam vier Tage nach Oscar Wilde auf die Welt, Oscar am 16. Oktober 1854, Arthur am 20., der erste in Dublin, der zweite in Charleville, einer Stadt im äußersten Osten Frankreichs, auf halbem Weg zwischen Lille und Nancy. Rimbaud nannte seinen Geburtsort Charlestown, und der junge Wilde verlebte schöne Sommertage in Charleville, der irischen, wundervoll grünen Landschaft. 1854 war John Keats erst 33 Jahre lang tot. Mit 22, im Alter, als Wilde anfing zu schreiben und Rimbaud Gedichte schon als Spülwasser bezeichnete, schrieb Keats in seine Ausgabe von Miltons „Paradise Lost“ eine Bemerkung an den Rand, eine Frage, die er sich selbst beantwortet. Beide Sätze lauten: „What creates the intense pleasure of not knowing? A sense of independence, of power, from the fancy’s creating a world of its own by the sense of probabilities.“ Frage und Antwort bilden nichts Geringeres als Keats’ eigene, sogar handgeschriebene Definition dessen, was er in einem Brief kurze Zeit später „Negative Capability“ nannte – die das dichterische Gemüt kennzeichnende Negativbefähigung: Der dichterische Mensch ist imstande, Zweifel und Halbwissen nicht nur zu ertragen, sondern fruchtbar zu machen. „Was bringt die intensive Freude am Nichtwissen hervor? Ein Sinn für Unabhängigkeit, für Kraft, der daher rührt, dass die Fantasie kraft des Sinns für Wahrscheinlichkeiten eine eigene Welt hervorbringt.“ Weder Rimbaud noch Wilde kannten die beiden Sätze. Sie müssen ihren Sinn auf andere Weise verinnerlicht haben.