Das Gras wächst weiter

Eine Frau geht vorbei, mit der ich um ein Haar das Leben geteilt hätte.

Gib es zu, du kommst dir immer öfter wie die Fehlbesetzung in deinem eigenen Leben vor.

Und plötzlich liest man wieder Max Frisch.

Im Weinberg, betrunken vom Rotgold des 2. Oktober. Ich werfe alle Ansprüche an Leben und Lieben auf einen Laubhaufen und stecke ihn noch am Vormittag an. Schon Herbst! Die Schlösser hocken an den Bergen wie Krähen im Apfelbaum. Und die Flammen züngeln zum Himmel hinauf, keine zwanzig Sekunden dauert der Zauber. (Edenkoben, 2.10.)

Entlang der Autobahn nach Winterthur trabt ein einzelner Hirsch über ein Feld im Regen – sein entsetzter Blick brennt sich mir ein, seine Verlorenheit unter uns Außerirdischen.

Das Gras wächst weiter. Unbeachtet lässt es Krieg und alles Leid. Es wächst, wird wieder grün, kennt keine Welt, die grad zerfällt, das Gras kennt nur das Gras.

Denk auch und immer wieder zurück an das Pferd auf der Weide am Ufer der Hetlinger Heide, allein da unter dem riesenhaften Strommast, der die Kabel oberhalb der ein- und aus fahrenden Schiffe über den Fluss führt. Tief in Gedanken versunken, so schien es, fast wie verschwunden stand es im grauen Gras, regungslos.

Und auch du selbst so ein schwarzes Loch inmitten der Ereignisse deines Lebens, die du ansaugst, verbrennst und vernichtest. (Vor Grenoble, 3.10.21)

Kein Lied

Wohin unterwegs du warst
– unbekannt. Ich kenne
deinen Tagesbefehl
nicht, nur den Tag,
kein Lied, das
du gesungen hast,
vielleicht sogar gegrölt
aus vollem Hals und vor
lauter Heldenshit. Ich weiß
von keinem Schimmer Licht,
in dem du lagst. Froh? War da
ein Duft? Stiller Augenblick. So.
Licht. Ferne Geräusche, fremd.
Hat dich wer liebgehabt? Wer
war das? Eh die Geschosse
kamen, und immer näher,
bevor es die Granate
zerriss, die Stille
zersplitterte
und du
mit.

Bresche

Kunst tauge nicht zu Propagandazwecken, sondern gehöre zur „Gegenwehr der Menschen gegen den Krieg. Deshalb kann auch die Behinderung von Kunst oder Künstlern kein Akt gegen den Krieg sein“, schrieb Alexander Kluge am 13. April in der Süddeutschen. „Kunst ist kein Richter. Kunst trainiert Wahrnehmung. Die Kriegssituation ist eine Welt der Algorithmen. Die Kunst ist der Anwalt der Gegenalgorithmen.“ Es sind dies die vielleicht einzigen Sätze, die ich während der völkerrechtswidrigen und durch nichts zu rechtfertigenden russischen Invasion in der Ukraine gelesen habe, die mich trösten können. Sie könnten, würden wir ihn hören können – denn er ist nicht gestorben –, ebenso von Oscar Wilde stammen – der den Krieg einer ganzen von Dünkel und Vorurteilen gelenkten Gesellschaft gegen einen Einzelnen am eigenen Leib erfahren musste. Wladimir Putins Europa aufoktroyierter Krieg ist ein Angriff auch auf die Werte, für deren Einsetzung und Erhaltung unzählige Künstlerinnen und Künstler seit Jahrhunderten gestritten haben. Man lese nur George Orwells Visionen „1984“ und „Animal Farm“, lese sie, anstatt sie abzutun als allzu bekannt und Schullektüre. Theater, Dichtung, Tanz, Fotografie, Ballett, Video und Malerei und Zeichnung und Plastik – und Musik! – und Übersetzung – reichen tiefer und drücken tastend oder schreiend, laut oder leise, mehr aus, als dass sie instrumentalisiert oder funktionalisiert werden könnten selbst in Zeiten extremster menschlicher Auseinandersetzungen. Was uns dazu führt, andere zu überfallen, abzuschlachten, zu vergewaltigen und auf offener Straße hinzurichten, den Zusammenbruch des Minimums an menschlichem Miteinander, alles, jede Freude und jedes Gräuel, jeder echte Austausch und jede Untat, wird stets – seit Jahrhunderten und -tausenden – thematisiert in den Künsten, die frei sind, sich freigerungen haben von Staat und Kirche, jedweder Inquisition, gerade deshalb. Kunst hat keine Funktion, nicht mal eine Aufgabe, so wenig, wie ein Kind sie hat. Sie ist Ausdruck von Lebendigkeit und damit Unterschiedlichkeit, wie jedes Kind. Nein, ich bin kein politischer Mensch. Ich misstraue jedem, jedem Axiom, das nicht, wie Keats sagt, am Puls überprüft wurde. Der Zweifel an aller politischen Äußerung ist mein Terrain. Und so wäre es auch unter einer Tyrannei wie jener Putins. Doch ich glaube fest, ja unverbrüchlich an einige wenige menschliche Werte, und es ist kein Zufall, dass ich sie in nur zwei dichterischen Texten der letzten achtzig Jahre ausgedrückt finde, Gedichte, die sich jeder Vereinnahmung zu entziehen vermochten: Ezra Pound wurde in einem Käfig gefangengehalten, weil er sich für Mussolini einsetzte, und schrieb dennoch den Abschluss des Canto LXXXI: „What thou lovest well remains, / the rest is dross.“ W. H. Auden drückte seine Bestürzung über den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in seinem Gedicht „September 1, 1939“ aus und fand darin zu einem Vers von nahezu galaktischer Bedeutsamkeit: „We must love one another or die.“ Man lese es nach, es steht ja alles im Netz.

Fragment eines Kriegstagebuchs

Dieselben Sternbilder am Nachthimmel
wie letzten Winter. Ich bin entsetzt
beim Anblick des Bahnsteigs
voll Tausender, die auf die Gleise,
dann auf der anderen Seite herumströmen
um den viel zu kurzen Zug. Das Foto lässt sich
großzoomen, und da erscheinen vor allem Frauen,
Kinder, Alte, wie auf allen Kriegsdarstellungen,
die ich kenne. Frau mit roter Kapuze,
Kind auf dem Arm. Was hast du,
frage ich mich, von Kriegen
wirklich miterlebt. Jedenfalls Angst.
Drohungen. Bedrohungen. Die Zeit wie
angehalten in diesen Tagen. Was soll da erst
die Frau mit roter Mütze sagen. Freiheit wird siegen.
Du musst dich begnügen. Auf der A5 öfter schweres Militär,
Armeetransporter, und einmal die blaugelbe Fahne
im Seitenfenster eines vorbeiziehenden Horch.
Und die Gespräche Schein. Und die Attacken
unsichtbar. Einen Nachmittag lang hinaufgewandert in
das felsige Bergland, auf dem Schotterpfad weiße Splitter,
vorbei an den Grotten, an Olivengärten, schon gehen
die Augen wieder auf, schon möchte ich überall
am Körper Augen haben. In der Luft zu hören
die Dohlen, seltsam aufgeweckte Raben,
auf dem Smartphone der Einschlag
einer Rakete in Cherson und der Staub
im rasselnden Laub. Ich bin aufgewacht
nach wochenlangem Albtraum im eigenen
Leben, andere schwer vorstellbar, zu schwach
für großstädtische Barmherzigkeit, es tut mir leid.
Wir fahren durch die Nacht. Heim von der Crêperie
in Forcalquier. Die Kids auf den Rücksitzen zählen sie:
die Toten durch die Pest, die Toten durch Corona, die Toten
im Krieg in der Ukraine. Welche Sprache spricht man da?
Die Sternbilder wie immer. Das große W – Kassiopeia.
Orion. Der kleine Bär. Vorm Nachthimmel steht
die Roche amère. Polen bittet die USA,
eigene MIG-21-Düsenjägerbestände
an die Ukraine zu überstellen. Und du
fühlst dich wie? Am vierzehnten Tag nach
dem russischen Angriff auf die Ukraine erklärt
der russische Außenminister Lawrow, Russland
habe die Ukraine gar nicht angegriffen. Was
kann wirklich sein in einer Wirklichkeit,
wo die Lüge sich ins Recht setzt.
Ein Kinderkrankenhaus beschossen.
Mariupol. Wöchnerinnen im Raketenfeuer.
Fünftausend russische Soldaten gefallen, gefallen,
gefallen, gefallen, gefallen, gefallen in nur zwei
Wochen. Ihre schneebedeckten Panzer mit
grillofenähnlichen Gerüsten auf dem Turm,
langsam dahinschepperndes Gerät, abgeladen
irgendwo in Belarus und über die Grenze gerollt, um
die erste nächtliche Kanonade abzufeuern, hinein
ins Vorland von Lwiw. Ich denke an Claude
Simons Schilderungen des Krieges als
das menschliche Nichts, Schlamm,
Matsch, Unrat, Plunder, Müll,
in Fetzen geschossen, das Vieh
halb eingesunken in den Sumpf aus
Stumpfsinn, Angst, Abfall. Simon beschreibt
in „Die Schlacht bei Pharsalos“ die Fassungslosigkeit
der Söldner, erfahren im Kampf Mann gegen Mann,
angesichts der Enge, kaum Raum und kaum Zeit,
auf dem durchstrukturierten Schlachtfeld. Ich
suche auf Google Maps Grodek, scrolle
durch Fotos meines Freundes Farhad
aus Czernowitz vom letzten Sommer, ich
lese, wo Berdytschiw liegt, der Geburtsort
Józef Konrad Korzeniowskis, womit ich Joseph
Conrad meine. Ich war noch nicht in der Ukraine.
Es ist der 11. März. Nächste Nacht erwartet
Odessa die Einkesselung, und ich denke
an meinen Freund Jürgen, der im Mai
mit dem Rad an Kiew vorbei bis
ans Schwarze Meer wollte,
einen Blick werfen auf die Krim,
und denke an meinen Freund Steffen,
den Kosmonauten aus Leipzig, Gagarin2.
Woran erinnere ich mich von seinen Bildern
aus dem Niemandsland um Tschernobyl:
das Grün. Auf der anderen Seite ist
das Gras immer grüner. Tam
choroscho, gde nas njet. „Keiner
hört mich. Ich lalle und meine Hände
sind immerfort in Bewegung, denn
die Liebe ist unsterblich und lebt
weiter in Träumen und Gesichten“,
schreibt Emma Lew in dem Gedicht
„Tschernobyl: Smalltalk“. Krieg heißt
für die, die ihn erleben müssen, die
Unwirklichkeit zeigt ihr zerrissenes
Gesicht. Sie will das Wirkliche sein
und frisst es doch auf. Der Erzähler
Sergei Gerasimow schildert den Luft-
angriff auf Charkiw und beschreibt die
Geräusche erster Raketen und erster
Einschläge, ein nie zuvor gehörtes
Sirren und Gejaul, vermengt mit
ungeheuerlicher Stille, mit der
der Erwartung, mit dem Schweigen
zwischen Einsetzen der Furcht und
Eintreten des Befürchteten. Der Krieg
ist der Riss im Blick, in sieben Sinnen
quer durch dich, aber was weiß davon
ich. „es gibt viele häuser die stehen aber
es gibt keine mitte es gibt viele wege die
führen doch sie führen zu keiner mitte“,
dichtet Tadeusz Różewicz in derselben
Welt. CNN Grodek. Gekappt. Ende
vom Glauben ans Glück, alle elende
Utopie. Heute stand ich auf einer 2025
Jahre alten Brücke und fühlte mich wie?

Eine überdachte Brücke

Als sich lärmend und pfeifend der Demonstrationszug nähert, packt der Straßenclown seine lustigen bunten Sachen ein und hinkt langsam nach Haus. (Manosque, 7.8.)

Im Schoß der Frau die große blassrote Nektarine.

Auf dem abendlichen Friedhof taucht zwischen Mauer und Grabstein eine Katze auf, mit langen Gliedern streicht sie hervor und legt sich auf die kühle Grababdeckung aus überwittertem Marmor. Sie spielt mit den Kindern, hält Distanz, schnürt dann weiter und scheint zu wissen, dass wir sie für die Seele der vermissten Mutter und Großmutter halten, die uns besucht, weil wir sie besuchen. (Volx, 8.8.)

Verwunschen – die überdachte Holzbrücke über den Largue zwischen Volx und Villeneuve. In all den Jahren, vielleicht Jahrzehnten (so sie eine Vorläuferin hatte), hat niemand aus der Familie die im Schatten zwischen den Uferbäumen stehende Brücke bemerkt. Du warst es, der sie entdeckt hat! Oben auf dem Gipfel auf der Roche amère hast du über die Abbruchkante der Schlossruine in die Tiefe geblickt, hinunter zu dem Flüsschen, das im Winter das ganze Tal überschwemmt hatte. Unten zwischen den Bäumen, die den Largue säumen, hast du die Brücke gesehen, ihr helles Holz, ihr schwarzes Dach, ihre Beine aus Stein. Es ist deine. Dir gehört eine verwunschene überdachte Holzbrücke über den zur Durance hin plätschernden Largue.

Beim Angelusläuten der großen Glocke kurz nach 12 Uhr – man kann sie oben im Turm hin- und herschwingen sehen – ist zwischen den Schlägen kurz immer auch das Seil zu hören, das den Glockenrand entlangschabt und sich sirrend strafft, sobald es freikommt.

Der mächtige Baum – die Fassade der kleinen Waldkapelle zeigt in seiner ganzen Höhe und Breite sein Schattenabbild. (Notre-Dame de Lure, 11.8.)

In der Abendhitze (ja, -hitze!) steigt der Gecko nur wenig schneller als eine Schnecke die Fassade empor in den Schatten der Dachtraufe, und rasend schnell (wie aus Widerstand gegen diese Verlangsamtheit) erinnere ich mich an das Eichhörnchen, das einmal in Barmbek die Hauswand im Innenhof hochwetzte, die nackte, glatte Mauer hinauf und wieder hinunter und wieder hinauf und wieder hinunter, fünfzehn, achtzehn Meter in die Höhe in einem Affenzahn (der Sieg des Erfindungsreichtums über die Schwerkraft), bestaunt von den Leuten, die an die Fenster kamen, um dem flammendbraunen Spektakel mit buschigem Schweif Bewunderung zu bekunden.

Ein erstaunlicher Vers taucht zu Beginn von Jannis Ritsos’ Gedicht „Blockade“ auf, datiert 28.5.68, geschrieben im Gefängnis für politische Häftlinge auf der Verbannungsinsel Leros: „Sich nicht erinnern, / nicht vergessen.“ Ritsos schreibt weiter – aber da ist das Gedicht bereits erneut Narration: „Die Gegenwart – sagt er – welche Gegenwart?“ So die Übertragung (durch Armin Kerker) den Sinngehalt des Griechischen erfasst: Wo, worin sieht Ritsos den Spielraum an der Grenze zwischen Nichterinnern und Vergessen? Eine rein zeitliche Auflösung und Ineinanderführung von Vergangenem, Gegenwärtigem und Künftigem in dem Vers zu lesen, scheint mir zu kurz zu greifen, und auch Ritsos selbst hat die Tragweite der Passage womöglich unterschätzt. (13.8.)

Schreib ein Gedicht, in dem sich an jeden Vers anschließt: „– das ist nicht wahr.“

Die Lyrikerin erzählt, auf Lyrikreisen habe sie stets einen Tauchsieder und eine Tütensuppe im Gepäck. Genau so liest sich, genau so liest sie ihre Lürick. Instantverse. Tauchsieder und Tütensuppe.

Japan – Oil on canvas
David Sylvian – Blemish
David Sylvian – Dead bees on a cake
David Sylvian – Everything and nothing

Nachtluft, hier und da

Unter der Hochbahnbrücke fährt einer mit einem Rad vorbei, das sich anhört wie ein Schwalbennest. (Hoheluft, 26.7.21)

Fährt nachts die U-Bahn vorbei, fällt sechs Sekunden lang ein Flackern ins dunkle Schreibzimmer – der Baum vor dem Fenster sagt so „ich“.

Death Cab for Cutie – The Photo Album
Death Cab for Cutie – Transatlanticism

Und nachts wetzt auch der Marder von einem geparkten Wagen zum nächsten und sucht darunter Schutz auch vor dir – wie du bei den Büchern. Sofort zu erkennen, dass er keine Katze ist, so schnürt er und trabt, er klettert über den Boden dahin, als wäre er erstaunt, dass das Erdreich nicht senkrecht ist – wie du anders. Fremdling. Marder. Marodeur.

Lana Del Rey – Born to die

Idee zu DIE GEZÄHLTEN TAGE. Nicht die Handlung, der plot, der Schrott standen am Anfang, sondern der Ton, der Geist (das Gespenst) und der wit – an die sich nun lebendige Begebenheiten genauso knüpfen wie das warme Schwelen der Lektüren. Der späte Frisch, der späte Born, der frühe Handke und der frühe Genazino. Der alte Brückenkommissar. Ich hab ihn sofort erkannt.

Schreib ein Gedicht: „Cache-cœur“

Der gelbgolden erleuchtete Lokaleingang gegenüber, wo in Tür und Fenstern die Stühle auf den Tischen stehen und die Kellner mit den knöchellangen Schürzen noch eine rauchen, ehe es nach Hause in die Nacht geht.

Im geraden Winkel zwischen Hauswand und angrenzendem Dach steht am Nachthimmel der Große Wagen, fünf Sterne, die dort funkeln. Glück der Koinzidenz. Der schöne Zufall, hat er etwas zu bedeuten, etwas abgesehen davon, dass er dir auffällt? (Muss er denn mehr bedeuten?)

Zerlegung des Zerberus

Entsorgen wollen sie mich, meine Lieben,
wie ihre Mutter unseren Hund – nein, das
weiß nur noch ich. Ein gelber Collie-Mix,
der so treu war, dass er mir des Öfteren
zu weinen schien. Jetzt verstehe ich ihn.
Indifferenz ist die Sprache des Gespensts.

Natürlich, seinen Vater soll man zerstören.
Meiner, der schlug einmal meinem Hund
fluchend mit der flachen Hand aufs Maul,
weswegen ich nie wieder ein Wort mit ihm
sprach. Er ist tot, und ich gebe nicht nach.
Indifferenz ist die Sprache des Gespensts.

Innigkeit fällt uns nicht zu, sie hat triftige
Gründe, aber einen Anspruch auf Liebe
niemand. Doch ist jeder ihrer wert, jeder
Hund, der treu war, nicht bissig, nur nicht
beliebt. Gut, wenn es ihn nicht mehr gibt.
Indifferenz ist die Sprache des Gespensts.

Traumamatura

Auf dem Gelände des abgerissenen Krankenhauses, in dem ich zur Welt kam, entsteht ein Neubau – Luxusappartements mit Seeblick –, und das Schwimmbad, in dem ich schwimmen lernte, war jahrelang Ruine, ehe es ebenfalls verschwand. Tegernsee, Bad Tölz. Am Mauerwerk einer heutigen Boutique die vermoosten Schatten des alten Schriftzugs HIRSCHWIRT. Die Gebäude der auf drei Ortschaften verteilten VOLKSSCHULE, die ich als „Bub“ besuchte, stehen noch, wirken klein wie miniaturisiert, entfremdet, modernisiert, aus dem Vergangenen herausgehoben. Die Dinge helfen, die Zeit entschwinden zu sehen, helfen gegen den Groll und die Bitternis. Die Luft, die Gerüche, die Vogelstimmen unverändert. Das warme Abendlicht. Die die Bergkämme einhüllenden Wolken. Die Singvogeldichte und das ewige Gekrächz der Dohlen und Krähen. In einigen Gesichtern erkenne ich Schulkameraden wieder. Der liebliche Verfall. Die schöne Enge. (Rottach-Egern, 14.7.)

Schreib ein Gedicht: „Traumamatura“

In der Dämmerung der Garten des Hauses, in dem mein Großvater starb. Da steht der Schuppen noch, dicht an der Hecke, wo es so dunkel roch. Habe ich damals schon gewusst, dass ich als Mann mit Kindern einmal hier stehen würde, um mich wiederzusehen?

Aus dem Nebel tauchen die Bergkühe auf wie Geister mit Glocken und haben zarte Wimpern.

Wenn die Erinnerungen sich überlagern, die Rekonstruktionsversuche einander widersprechen, ist die Zeit des Abschieds gekommen. Da ist niemand mehr, anhand dessen Erinnern du dich deines eigenen versichern könntest, und das Interesse an deinen Erzählungen ist schmal, begrenzt, verflüchtigt sich rasch, es zeigt nur, wie dringend du abschließen solltest mit deinem Gestern, um noch einmal im Heute anzukommen.

Schreib ein Gedicht: „Petersburger Hängung“

Alle, alle geliebten Dinge aus deinen Kindertagen tauchen in unwesentlich veränderter Gestalt später in deinem Leben wieder auf – nichts kann verschwinden, es ändert nur den Ort, wie Proust sagt: „alles, was wir in uns haben, verlagert sich anderswohin, ohne zu verschwinden.“ Wohin aber „verlagert“ es sich? Auf dem Vorplatz des früheren Gasthofs deiner Großeltern ergreift dich angesichts der Kleinheit der Dinge und des unverändert wiedererkennbaren Rauschens der hinter dem Haus vorbeifließenden Mangfall die alte schwermütige Beklemmung. Diese Orte sind ihre Wurzelgründe. Diese Orte – die Gasthoftür, den Schuppen im Garten, den Sportplatz im Schaftlacher Forst, das o-förmige Wäldchen – habe ich überall in Ähnlichem wiederzufinden versucht. Er ist eine Sucht, dieser bittersüße unweigerliche Schmerz. (Elmau, 16.7.)

Gondeln im Nebel. Schwimmen in den Wipfeln.

Das Kind legt mir die Tarotkarten und scheint alles von mir zu wissen.

Tegernsee. Reprise

Die einzige Hostie deines Lebens schmolz
    auf deiner Zunge in dieser Bauernkirche.
Deine Jüngste bestaunt die Einritzungen
    im Geländer der Empore: Gleichaltrige
schickten ihr Nachrichten, vom Juli 1759.
    Tölz, Isarhochwasser, und das Spaßbad,
du hast da schwimmen gelernt, abgerissen.

Regenfälle, als versuchten die Berghänge
    flüssig zu werden. Es schwemmt sie weg,
deine Wurzeln, und: Du hast eh nichts mehr
    zu suchen hier, du Spross einer Gegend.
Hirschwirtkind. Du Umbruchsohn. Du Leser
    leerer Schatten, von singbarem Schwund.
Und jedes Und ein Grund zur Versöhnung.

Leere

Die Leere in den Bibliotheken, in den Gärten, in Schulen: die Leere
   an der See, im silbernen Licht, die leeren Straßen, Märkte. Die Leere
in den Gesichtern, in den Sätzen, den Bergen, die Leere der Sainte-
   Victoire in den Zügen, im Schnee. Die Leere in den Träumen: Leere.
In den Liebesbekundungen, in den Klubs, Mails, Wolken, Stadien: die
    Leere. Am Himmel die Leere, auf den Wegen, in den Innenstädten,
den Schwimmbädern: Leere, wo ich stehe, wohin ich gehe, woher
    du kommst. Aus deiner Leere in meine. Die leeren Versprechungen,
Erinnerungen, die Leere im Wind, in den kahlen Bäumen, Lokalen,
    Perspektiven, Phrasen, Grünflächen: die Leere der hohlen Gesten.
Die Leere des Blicks da im Spiegel, in den Spielen der Kids und in
       den Kirchen, im Bus: die Leere, die leer ist, nichts weiter, nur leer.

Louisenthal

Es war bestimmt in diesem einen Sommer,
als nicht sehr weit entfernt die Olympiade
in München stattfand, die nur Spiele hieß
und deren Frohsinn auseinanderbrach
in Schrecken, Starre, einen Schock bis heute,
ja, Sommer 1972
wird es gewesen sein, als Josef Spagl
mir, ich war sieben, eines Abends zeigte,
wie man sich seine Schuhe band: zwei Schleifen,
zwei spitze Finger und – er sagte „Obacht!
Jetzt kummt, worauf’s fei akummt, schau guat hi!“ –
den einen, mir stets Wunderblitzmoment,
in dem der Daumen beide Senkelschlingen
nicht mehr bloß festdrückt, sondern tätig wird
zusammen mit dem Zeigefinger und
sie durchzieht, straffzieht und den Knoten knüpft
wie aus dem Nichts materialisiert,
ganz wie der Spaglsepp noch zu mir meinte:
„Dood is ned fester, klaaner Mo!“ – nein, denn
der Tod bringt alles, nur sich selbst nicht um.

Und mein Erinnern nicht. Dass nichts verschwindet,
bloß sich verlagert – nur wohin? –, wie kommt
Proust auf so etwas? Josef Spagl, da
schon, schien mir, 90, war der liebste Gast
im Wirtshaus meiner Großeltern in Gmund,
nein in Louisenthal am Tegernsee,
aus dem, vorbei an Gmund, die Mangfall fließt,
an deren Ufer unser Gasthof stand
in jenem schwarzen Sommer ’72.
War er in der Papierfabrik beschäftigt?
Ich seh den Sepp noch vor mir unverändert
groß, hager, traurig, freundlich, und besonders
entsinn ich mich des Goggos, seines Autos,
mit dem er kam, um so darauszuklettern,
dass gar nicht vorstellbar schien, wie ein Mensch
von seiner Länge darin Platz hat finden,
ja um den See dies Ding hat finden können
bis nach Louisenthal, zu mir und Opi.
Der liebte ihn. Und spielte oft ein Stück
auf dem Akkordeon für den Sepp, bloß ihn.

Das Lied hieß Allwei bist mei längsta Freind.
Was zu verschwinden heißt, was Wiederfinden,
erklärte mir der Spaglsepp mit zwei
Fetzchen Papier, geklebt mit Spucke auf
zwei Fingernägel – Hänselchen und Gretl –,
erklärte mir den Leonidenregen
und wann ihn das Akkordeon weinen ließ.
Im Sommer, als wir alle endlich weinten –
vielleicht im Wissen, welche Zeit begann –,
starb in derselben Woche wie in München
die elf Athleten eine Schülerin
aus meiner Klasse, die in Point
ein Laster überfuhr. Vergessen, wie
sie hieß, besuchte ich vor ein paar Jahren
in Gmund den St. Ägidius-Kirchhof und,
als ich schon wieder gehen wollte, sah
auf einmal Josef Spagls Grabstein dort
an einer Mauer lehnen, hinter der
ich in die Schule ging. Der Tod ist nichts,
das je zu trennen uns vermag, mein Freund.

Letzte Vorbeifahrten

Zwei kleine Mädchen auf ihren rosa Rädern fahren langsam vorbei, und beide pfeifen, und beide pfeifen dieselbe erfundene Melodie, und in einer Kastanie pfeift eine Amsel das Lied der beiden einige Augenblicke lang nach. (Barmbek, 28.5.)

Um ein Buch zu lieben, benötigt es darin keine Handlung, nur die Musik der Gedankenfügung, seine, wie man sagt, „Sprache“, die etwas anderes ist als sein „Ton“. Alles Beschriebene wird dargestellter Klang, klingende Darstellung. Das Gegenteil meint Hölderlin mit dem „Klanglosen.“ Und du weißt sehr oft schon, bevor du ein solches Buch zu lesen beginnst, dass es ein solches klingendes Buch ist. Ich wusste es, als ich mit einem Mal unbedingt Prousts „Jean Santeuil“ lesen wollte, ja sollte, wenn nicht gar musste.

Würde ich alle Regenschirme, die ich in meinem Leben verloren habe, noch einmal und gleichzeitig aufspannen können, es entstünde ein Schirm von der Größe einer ausgewachsenen Rotbuche.

In der Mitte zwischen deinem Zorn und deinem Kummer, da ist eine Freifläche für dich, da halt dich auf, weil du dort noch wachsen kannst.

Crosby, Stills & Nash – Demos

Schreib ein Gedicht: „Heym auf dem Eis“

Drei letzte Vorbeifahrten: Die zwei kleinen Mädchen auf ihren rosa Rädern fahren wieder vorbei. Alle beide pfeifen sie – erst die eine, dann die andere. Es ist nicht dieselbe Melodie, doch ihr Pfeifen ist das gleiche. Ein Kahlköpfiger fährt vorbei und zitiert in sein Handy aus seinem Scheidungsvertrag. Vielleicht derselbe Glatzkopf fährt vorbei und spricht in seine Uhr – oder spricht mit ihr?

„Ich hörte ihre Tränen.“ Dante Gabriel Rossetti

Bombay Bicycle Club – I had the blues but I shook them loose – Live at Brixton

Schreib ein Gedicht: „Rilke in Elmau“

Die gleichen Bleistiftkreuze (X), die ich in die leeren Regalschränke zeichne, um die Position der Bretter zu markieren, mache ich in die Ausgabe mit Oscar Wildes Briefen aus dem Gefängnis, um daraus auszuwählen. (Barmbek, 30. Juni 2021)

Aus den Übersetzungen

Rutger Kopland

Auszug von Töchtern

Sie mussten tatsächlich gehen, ich hatte es gesehen
an ihren Gesichtern, die sich langsam wandelten
von denen von Kindern in die von Freunden,
von denen von früher in die von jetzt.

Und gespürt und gerochen, als sie mich küssten,
ihre Haut und ihr Haar, die nicht mehr für mich
bestimmt waren, nicht so wie früher,
als wir noch Zeit hatten.

Es war in unserem Haus eine Welt des Sehnens,
Glücks, Schmerzes und Kummers gewachsen, in ihren
Zimmern, wo sie ansammelten, was sie
mitnehmen sollten, ihre Erinnerungen.

Jetzt da sie weg sind, schau ich aus ihren Fenstern und seh
genau die gleiche Aussicht, genau die
gleiche Welt von vor zwanzig Jahren,
als ich herkam, um hier zu wohnen.

(„Vertrek van dochters“; aus: „Dit uitzicht“, 1982)

*
Aus: „Dank sei den Dingen“ Ausgewählte Gedichte 1966 – 2006
Aus dem Niederländischen gemeinsam mit Hendrik Rost
Edition Lyrik Kabinett bei Hanser, München 2008

Marie

Zur Erinnerung an Marie T. Martin (1982 – 2021). Mein Foto zeigt Marie im Januar 2015 am Nord-Ostsee-Kanal in Rendsburg gemeinsam mit Tom Schulz.

Vorbeifahrten

Binnen einer Woche meldet die Forschung, es sei ein Lebewesen aus menschlichem und vom Affen stammenden Erbgut gezüchtet worden – und man habe die Musik der Spinnennetze entziffert. Letztere ermögliche vielleicht die Kommunikation mit den Tieren über die Stabilität ihrer Netze.

Die Augen der Puppe, die seit Jahren nicht mehr offen stehen bleiben wollen, hat sie fixiert – mit Superkleber die Wimpern an den Augenhöhlen festgeklebt, wodurch die Puppe mit einem Mal wieder in die Welt blickt … „… mit hellblauen Augen!“, ruft das Kind.

Cock Robin – Cock Robin
Cock Robin – After here through Midland

Lieferwagen fährt vorbei: „Abfallservice – Depotservice – Friedhofservice“

Totem Butterfly.

Ein Junge war ich noch, viel unterwegs,
stieg in die Bäume, um zu lesen, als
ich eines Nachmittags von einem Wipfel aus
mich selbst da unten stehen sah
inmitten meines Zorns und Kummers.

„Kann ich etwas begreifen, das so lange zurückliegt?“ Kann ich denn etwas begreifen, das noch nicht so lange zurückliegt?

Ein alter amerikanischer Straßenkreuzer fährt vorbei, und das Kind sagt: „Da ist ein Auto aus dem Mittelalter!“

Spiegelungen: die Baumwipfel auf dem Smartphone-Display, als liefe dort ein Baumwipfel-Clip.

Wir unterhielten uns miteinander hinter der Glasfassade, und auf einmal stand draußen im abendlichen Nieselregen ein Reh, so nah, als gehöre es zu uns. (Rendsburg, 6.5.)

Ajgis poetisches Diktum, das mich so lange schon beschäftigt – der Schnee sei das, was man nicht anhalten könne –, finde ich wieder (fand es auch Ajgi dort?) bei Proust. In „Jean Santeuil“ fügt er dem Bild jedoch eine Nuance hinzu – die Ajgi nicht gesehen hat, womöglich gar nicht sehen wollte? Proust (in Eva Rechel-Mertens’ Übersetzung): „Vom Himmel aber rieselte es ständig weiter herab, ohne daß Jean etwas dagegen tun, die Flocken am Niederfallen hindern, sie wieder zum Himmel zurückschicken konnte.“

Wenn dein Verleger dir in Kursfragen nicht mehr antwortet, weißt du nicht mehr recht, wo du stehst und musst den neuen Kurs selbst finden, was auch der Zweck und Sinn des Schweigens scheint. Nur weißt du dann auch, und solltest es wissen, dass dein Verleger kein Ohr mehr hat für dein künftiges Werk – was womöglich viel mehr an seinem Gehör liegt. Frag dich, wozu die Stimme von außen notwendig ist. Ist sie denn eine von außen?

Die Schnellstraße entlang fährt eine junge Frau Fahrrad, an einem Strick hinter sich her zieht sie ein schwarzes Fohlen.

Der junge Freund ruft plötzlich: „Da kämpft ein Falke gegen einen Rotmilan!“

Zwei Tage Regen bei Wärme, und die Blätterdächer entstehen. Die Geschwindigkeit der Bäume.

Edenkoben

Phänomenale Simulationsentlarvung
durch die Grünfinken. Es gibt sie noch,
die helle Pracht im Bronzenen und im
Silbernen und im Goldenen Oktober.
Im Garten Edenkoben ja. Die Äpfel
rollen ins Gras, das sie davon abhält,
weiter zu stürzen, weiter zur Erdmitte.
Ich gehe in der Fliegenmansarde unter
dem Dach umher, Stubenfliegenrettung,
damit nicht alles sterben muss im Licht
der ausgesperrten Sonne.
                                                Die Fenster
sind verschließbare Öffnungen in Tag
und Tod. Nachts leuchtet der Regen.
Nichts leuchtet nachts wie Regen
aus dem Weinberg herauf, Regen,
der nach Riesling duftet. Die Bläue
ist groß, das Gras aber grüner, weil
ich es so will. Ich werde umziehen
ins Grünfinkenzimmer. Ich werde
die Unwirklichkeit abschütteln mit
einem Bussard als bestem Freund.

Für Ernest Wichner

Die zärtlichste Hand

Der kleine Junge fährt auf seinem Rad um den verwaisten Sportplatz, über dem ich stehe und in die Ferne blicke. Wir sind grundverschieden und doch dieselben. Der Kleine fährt in sein Leben und versucht die Einsamkeit. Ich blicke zurück auf meines und verwerfe das Alleinsein als Trugschluss. Ich war er, und er wird ich sein. Er ist mein Vater, und ich bin seiner. Er ist mein Sohn, und ich bin seiner. (Forcalquier, 1.3.)

Der Friedhof von Forcalquier ist ein Irrgarten aus fünf Meter hohen, gestutzten Formwacholderbüschen. In den Innenflächen die Gräber, auch in den Wacholderbuschbögen der Rundgänge, Seitenwege und Arkaden. Und ist der Tod nicht ein Irrgarten? Irrweg, Irrtum, Verirrung ist er allemal.

Der Wald der Gontards – früher mal lediglich Besitzer einer Doppelölmühle – wurde zerrissen von einer Erdölpumpstation. Schneisen und abgezäunte Brachflächen zertrennen die Waldungen. Lastwagenzufahrten und -rampen. Die Verheerung erstreckt sich ins Hügelland, in die colline. Der Traum von einer Schöpfung als maßgebendem Gegenüber prallt im Wald der Gontards auf den Albtraum der Ausfunktionalisierung, und dazwischen verläuft als Brandschneise die Unwirklichkeit. (Manosque – Dauphin, 7.3.)

Die Regenwahrscheinlichkeit.

Hat, was du aufschreibst, etwas mit deinem Schreibwerkzeug zu tun? Ist das eine vom anderen abhängig? Frag dich das. Und schreib die Antwort auf. Und sieh dir an, wie sie ausfällt. Und frag dich, wie sie ausgefallen wäre, hättest du mit etwas anderem geschrieben.

Schreib von Herzen. Nicht am Herzen entlang. Von Herzen – was heißt das?

Anfang April. Vor den Fenstern ein Schnee wie den ganzen Winter nicht, nur minutenlang – ein Minutenblizzard. Aber weißt du noch: auf der Antarktischen Halbinsel, der Schneefall, das Schneetreiben aus heiterem Himmel? Und wie mit einem Mal die Angst herbeigewirbelt kam, du könntest darin verlorengehen, ja schon verlorengegangen sein – wie herrlich das war?

Die zärtlichste Hand, die dir ins Gesicht streicht, ist immer deine.

Skorpion

Er trägt auf dem Rücken als Zeichnung
  ein einzelnes, blinzelndes, bewimpertes
Auge. Was es eräugt, fliegende, fliehende
  Beute, frisst er nicht. Er kann warten,
    wie Hitze, Gott warten. Er lähmt, zerrt
  alles Wände hoch in Staubwinkel. Im Stillen,
für dich, in deiner Stachelsprache, nenn ihn
  Mensch. Nur sprich das Wort nicht aus.

Für Andreas Altmann

An die, die mich retten

Diejenigen, die uns retten
vor unserem Leben, wissen
nicht, dass sie uns retten.
Christian Bobin

Praktikum im Atlantik.

Bei der Schlittenreparatur fällt dir auf, dass die abgeplatzte, zerbrochene Kufe schon des Öfteren ausgebessert wurde – am Holz fixiert mit Nägeln, goldfarbenen, silberfarbenen, mit zahlreichen unterschiedlichen Schrauben, Schlitz, Kreuzschlitz. Wann? Wie alt ist dieser Schlitten denn? Von wem und woher stammt er? Wer fuhr darauf? Ist das von Bedeutung? Die Kinder jagen den Hang hinab nicht nur wie die im Schnee der Zeit Verschwundenen, sondern gemeinsam mit allen schlitten fahrenden Toten der Menschenfamilie. (10.2.)

Die Landschaftsbilder Pissaros – die einfachen Leute in der sie umgebenden Schönheit, der Pracht des Lichts, der Farben und Formen. Wussten, wissen sie darum? Oder sah sich Pissaro als ihre Brücke? Vielleicht war er einer der letzten Zeugen davon, dass es keiner Brücke bedurfte.

In der verharschten Schneedecke die Spuren der Katze. Ich weiß, welcher. Ich kenne sie. Nur sie streicht hier vorbei. Sie hat Augen!

Schrecklich, Sylvia Plaths Tagebücher zu lesen. Der zerstörte Mensch. Die junge Frau, die junge Mutter ohne Möglichkeit, ihr Glück zu verwirklichen. Eine Schande.

Die Frauen im Park lehnen an Bäumen, sonnen sich. Die Männer: Sport. Umher tollen die Kinder. Und du – gehst mitten hindurch. (Eppendorf, 14.2.)

Ich habe ein Sorgenkind – ein Gedicht, dem muss ich unbedingt noch heute unter die Arme greifen.

Der Hund mit dem Maulkorb ähnelt mir mit meiner Maske. Der Hund hat meine Augen.

Wolfgang Borcherts Betitelung der drei Teile seines Romans, zu dem er keine Kraft mehr hatte: 1. Buch: Die Nacht; 2. Buch: Nacht um uns, Nacht; 3. Buch: Nacht Nacht Nacht.

Stephen Stills – 2

Ein 80 Jahre alter Stuhl verbrennt in 20 Minuten.

Haus für Ritsos

Den uralten Pfad hinauf. Nur Schotter.
Und entlang dann, dann hindurch unter
Strauchwerk, scharf, stachlig, immergrün.
Alles war bewaffnet, Jannis, wie wir da
kampflustig so zur Kapelle hinanstiegen.
Thymian, Lavendel. Salbei. Phönizischer
Wacholder im Sommerradau der Zikaden.
Unbeugsam der Widerstand, unerbittlich
wie die Sonne die Schattenbemühungen
verhärteter Früchte und was der Ilex lehrt,
wenn das Licht ihn malträtiert: Wahr werden
alle Färbungen von allem, das aufbegehrt
und dabei doch gerechtbleibt wie die Grille,
die Eule. „Nichts“, so du da oben, „ist härter.“

Weißt du noch? Drei Tage lang hatten wir
bei Dauerregen alles alte Holz vom Keller
ins Haus geschleppt, zerkloppt und im Kamin
verfeuert. Unser Qualm, Jannis, quoll fabelhaft
über das Dach. Wolken wurden das Laufgitter
meiner Liebsten, Stühle, Rahmen, ein Sessel
und die alte, halbe Gute Frau von Forcalquier.
Vorbei an der Kapelle, in deren glaslose Fenster
Kinder mit dem Mistral riefen – drei Gespenster –,
stiegen wir zum Schloss hinauf. Weißt du noch,
der Trümmergipfel seit fast tausend Jahren?
„Ich bin zu lang schon tot. Und Griechenland,
mein Hellas ist verbrannt“, so da oben du.
Das Laufgitter meiner Liebsten, Stühle, Rahmen …

alles sah ich unter Kiefern, wie neu, da oben stehen.

Es war dein Haus. Nur die Tür und alle Fenster fehlten.

Elligersweg

Auszug

(…)

Bücher an die Straße gepackt,
auf die violette Backsteinmauer,
die in wärmeren Nächten immer
dieser junge Igel langtigert: Marx,
Manifest, Uhland, Gedichte, 1984
mit den Anstreichungen von 1984.
Ottmar Elliger d. Ä., Die Stillleben.
Ottmar Elliger d. J., Die Stillleben.

Irgendwann findet jemand heraus,
nicht nur alle Gemälde der beiden
malte der Sohn, er erfand einfach
den Vater, er wurde sein eigener!
Oscar Wilde liegt keine Minute da.
Der Gärtner hat einen dottergelben
laubbläserartig röhrenden Rollator,
an Don Quijote aber kein Interesse.

Auf Mascha Kaléko sitzt ein Sperling.
Während sich die Zimmer leeren und
in Kisten wandert ausnahmslos alles.
Ensemble schließt das alte Kapitel.
Das zitierte ist das wahre Leben,
die letzte unleserliche Schrift
Staub aus vier Sommern,
vier Sommer lang Staub.

(…)

Der Sommer mit Strindberg

Als ich Strindberg las, waren alle Bäume
anders. Umschlossen von glasigem Licht,
wirkte jeder beschützt. Er verwahrte sich.
Nachmittage lang lief ich mit den Hunden
über die Felder und an Waldrändern hin,
Hohlwege, durch die ich träumend ging,
und immer Überraschung: Wolkenbruch;
offene Scheune; verschwundenes Moos.
Die Hunde waren beide schwarz, liebten
einander, rangelten, lösten jedes Rätsel
verschieden. Sie kannten alle stärkeren
Äste auswendig, und was sie rochen, ja
war ein Zeichen: Minutenlang sahen sie
gedankenversunken in die Baumkronen.
Strindberg rief einmal einem Kritiker zu:
„Warten Sie, bis ich mit Ihnen abrechne
in meinem nächsten Stück!“ Das hab ich
nicht vergessen können. Die Kastanien,
dachte ich, sie sind Strindbergkastanien,
aus einem glasigen Licht, das dir etwas
zu sagen hat. Nur was? Dieselbe Frage
stand oft den zwei Rumtreibern im Blick.
Einmal, es war ein schwüler Mittag Mitte
August, jagte uns ein Schwarm Bremsen
die Felderraine entlang, und da segelten
aus dem abgestorbenen Zaubergezweig
einer Eiche dunkel wie drei Pfeilschatten
drei Schwalben, und sie fingen alle weg.
Alles kann geschehen, alles ist möglich
und wahrscheinlich, schreibt Strindberg,
Personen spalten sich, verdoppeln sich,
vertreten einander, sie gehen in Luft auf,
verdichten sich, zerfließen und fügen sich
erneut zusammen. In Ein Traumspiel ruft
Indras Tochter wieder und wieder, es sei
schade um die Menschen, und das ist es,
was ich seit dem Sommer mit Strindberg
glaube: Es ist um uns Menschen schade.

Frühstück im Steinzeitpark

In der Hose, die aufs Bett fliegt, siehst du für einen Augenblick noch dich.

Genesis – Nursery Cryme

Du glaubst ja gar nicht, wie schnell du allein bist auf dieser Welt – jede Kuh, jede Elster, jede Birke im Regen weiß es besser und kann dir davon erzählen. (15.12.)

Erzählt mir, was ihr wollt: In den Gesichtern der Fiesen sieht man ihre Fiesheit. Ich bin gern bereit, ihre Gemeinheit, ihren Stumpfsinn, ihre Gewaltbereitschaft und ihren Egoismus zurückzuführen auf ihre schlimme Kindheit, auf traumatische Erfahrungen und meinetwegen Herabwürdigungen. Trotzdem sind sie gemein, eklig und einfach lachhaft. Die armen Ungeheuer! Sollen sie lesen!

Genesis – The lamb lies down on Broadway

In jedem Buch, das du liest, unterbrichst und an anderem Ort weiterliest, sind das Licht und die Landschaft vor der Unterbrechung darin aufgespeichert. Ich lese – nach viereinhalb Monaten – Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ weiter und sehe die Terrasse in Volx vor mir, ich stehe rauchend unter dem Feigenbaum und höre die Glocken und im Haus Auréliens hellblonde Stimme aufrufen: „L’angelus!“

Ein Mann mit seiner Frau oder Schwester oder Cousine bleibt vor dem Haus stehen und bestaunt das Gerüst. „Keine freie Fläche!“, ruft er begeistert. „Nur Fenster!“ – In einem stehe ich.

Schreib ein Gedicht: „Frühstück im Steinzeitpark“

Schreib ein Gedicht: „Unterschiedliche Vorstellungen von einem Tag in Deauville“

Wie der junge Nachbar seinen jungen Hund, so führe ich das Buch spazieren, das ich übersetze – im Wind und im Regen. (11.1.)

Sie ist der leibhaftige Eklamativ.

Der Junge packt seinen ersten eigenen Computer aus, er ist himmelblau.

Ein guter Job wäre es, dazwischen zu sein. Zwischen den Diskursen, den Erfordernissen, dem Notwendigen und Nutzreichem. Zwischen Politik und Psychologischem. Soziologischem. Glaziologischem. Zwischen denen, die täglich zu den Leuten gehen, und denen, die täglich über die schreiben, die täglich zu den Leuten und gehen, und die besser mehr über die Leute schrieben und sich unterhielten mit ihnen. Zwischen denen. Muss man es erwähnen, dass Poesie Bindegewebe ist?

Ein grauer Tag im Paradies

Der wirklichste Morgen, den ich je erlebt habe, war ein Morgen im Herbst 1980, als ich in Taunton, Somerset, zusammen mit meinem Austauschschüler Rodney zur Schule fuhr. Es war klirrend kalt, die Straßen wie ausgestorben, alles unter Raureif, und wir auf zwei klapprigen Rädern johlten bibbernd, schlotternd und waren selig vor Freude aneinander und an der jungen Welt.

An einer sonnigen Straßenecke irgendwo in Amerika saß ich mit meiner verstorbenen Großmutter und unterhielt mich mit ihr so innig wie eh und je vor ihrem Tod. Sie habe mir zu berichten, sagte sie mit ihrem widerspenstigen Chemnitzer Sächsisch, dass mein Bruder gestorben, dass er „nübergerufen“ worden und sie nur gekommen sei, um ihn abzuholen.

Kaum dass du dir die Haare hast schneiden lassen, spürst du wieder den Wind.

Arbouretum – Let it all in

Sein größter Wunsch, sagt das Kind, sei ein Sommer mit Schnee. Ich erzähle von einer Reise nach Mallorca, neun Jahre, bevor das Kind zur Welt kam, und dass es da auf einmal aus dem blauen Himmel regnete – mir bis heute unbegreiflich. „Wieso?“, fragt das Kind. „Die Wolken sind bestimmt blau gewesen.“

Ein grauer Tag im Paradies.

Das Gegenteil von Vergessen sind die Vögel.

Depeche Mode – Violator

„Der Junge trinkt Milch / und schläft geborgen in seiner Zelle, / eine Mutter aus Stein.“ Tomas Tranströmer, aus „Gefängnis“, Neun Haikus aus dem Jugendgefängnis Hällby (1959)

In der Dunkelheit der kleine Park an der Kirche, in dem man dich am Vormittag fotografiert hat, die schwarzen Büsche, die dunklen Umrisse der vor zehn Stunden noch gelbgoldenen Kastanie.

The Sea and Cake – Everybody

Als das Fenster dunkel blieb, hinter dem sonst nachts immer der Fernseher lief, warst du plötzlich ganz allein – nein, da war plötzlich in einem anderen Fenster Licht!

Nur der Schatten einer Lokomotive

Die Luft – als würde es (endlich) schneien. Als wüsste – ja – die Luft, wann es (endlich) Zeit ist zu schneien. (11.10.)

Tage-, nächte-, wochenlang redet die Nachbarin ununterbrochen auf jemanden ein – wen? Jedenfalls auch auf mich.

Gott, las ich irgendwo, sei ein Eichhörnchen – wo? Vergessen.

In einer Pause steht der junge Gerüstbauer vor meinem Fenster auf dem schmalen Rasenstreifen und besieht sich sein Werk, die Einschanzung meines Ausgucks. Dabei betastet er gedankenversunken einen Rosenzweig, drückt die herbstlichen Blätter sanft. Sag von niemandem, er sei stumpf. (13.10., Barmbek)

„Schockhaft“ im Duden „liefert keine Ergebnisse. Wir haben stattdessen nach ,Scheckheft‘ gesucht.“

Am Fischmarkt sechs stämmige, bärtige, dunkle Typen vor den Kühlern ihrer Luxussportkarossen. Sie unterhalten sich miteinander in Gebärdensprache und lachen einander von Herzen zu. (Altona, 17.10.)

Elefant terrible.

Spiegelungen: Ich komme zum Fleet und sehe die Häuser gegenüber unter Wasser. Ich trete an die Haustür und sehe das Baugerüst im Treppenhaus.

Ihre Fragen konnte ich nur bestaunen. Sie rückten mich in eine wohltuende Distanz zu mir selbst.

Genesis – … and then there were three …

Nur der Schatten einer Lokomotive fährt vorbei. (Berlin-Spandau, 29.10.)

Bei Bitterfeld ist der aufgegebene Güterbahnhof von Wolfen vollkommen von Efeu überwachsen – Gleise, Zäune, Waggons, Lokomotiven, Gebäude, Laternen, versunken im grauen Grün des Laubs. Du fährst im Zug vorbei, und hinter dem Zug her jagt der Efeu, fast erreicht er das Zugende. Steig nicht aus in Wolfen!

Crosby, Stills & Nash – CSN

Durch die auf Kipp stehenden Fenster – draußen ein warmer Novembertag – rieselt weißlich-grau der feine Staub des Mauerwerks herein, den die Bauarbeiter von der Haswand flexen. In der hohlen Hand erstaunt seine pudrige Weichheit. Der Staub erscheint wie eine Botschaft – nur wovon? Wessen? (3.11.)

Besonders erzürnt scheinen die Krähen nachts, wenn sie unvermittelt aneinandergeraten.

Bodenschatz: die dutzenden Münzen in ihrer Handtasche.