Nicht zu verachten

Nicht zu verachten: wie morgens das Licht gekrochen kommt und hausieren geht.

Ich denke an Rio zurück. Ich denke an die grünen Wogen, die hereinbrandeten an den Strand von Ipanema und daran, wie es war, dort allein zu gehen, vormittags, in der minütlich zunehmenden Sonnenwärme, den Tag vor mir, im Bauch Mango und Papaya, vor Augen die Meeresweite und auf der Haut den warmen Salzwind. Daran denke ich zuerst, wenn ich zurückdenke an Rio, die Wochen dort in Ipanema. Ich denke an die Termiten in meinem Schlafzimmerschrank. Ich denke an den Jungen, der nur noch ein Crackgerippe war und mir entgegengewankt kam auf der Straße, ein lebender Toter mit unfassbar traurigem Blick. An die Affen denke ich, in den Bäumen neugierig rufend, und wie sie am Abend zurückkletterten von Ast zu Ast hinauf in die Urwaldbäume kilometerweit. An die Musik aus den Favelas unterhalb meines Wohnturms. An die großen Brecher, die hereinrollten über die See und zu sehen waren in Kilometerferne. Mit einem Mal aber fällt mir die Fähre nach Niteroi wieder ein – zum ersten Mal in dieser Intensität: der riesige Schiffsrumpf, der sich heranschiebt an den Anleger, und Tausende von Passieren, die an Land strömen, die Tausende, die an Bord strömen, als wären sie dieselben und würden immer hin und her pendeln zwischen den Schwesterstädten. Einer davon ich. Und das schwere Stampfen der Maschine, der warme Andrang der Leute, das Lachen und das innehaltende Blicken auf die Bucht, während wir (wir) übersetzen. – Warum fällt mir das zwölf Jahre später mit einem Mal so deutlich wieder ein? (28.8.)

Nicht zu verachten: die Erfüllung der Tauben, sobald zwei der Biester einander gefunden haben.

Die Tresenkellnerin nimmt einen Apfel aus einer Schublade voller Äpfel. Lächelnd zerschreddert sie ihn im Entsafter.

Das Reich der Zerrüttung.

Cocteau Twins – Blue bell knoll

Nicht zu verachten: das Non-Hodgkin-Lymphom.

In der nächtlichen Gasse zur Piazza Navona kommt dir ein Zentaur entgegen. Das Mädchen mit der langen schwarzen Mähne sitzt auf den Schultern ihres Freundes, und es lächelt über dein Staunen. (Rom, 27.9.)

Als nach vier Tagen die Lesereise durch die Pfalz mit sechs Dichterinnen und Dichtern aus Israel endet, bin ich nicht mehr so bekümmert wie früher nach dem Ende solcher intensiver Tage voll des Austauschs und Kennenlernens einer erfüllten (ja) Fremde. Auf dem Bahnhofsvorplatz in Mainz möchte ich mit jedem Menschen sofort reden. Alle Fremden scheinen Hebräisch zu sprechen, und wie zauberhaft das klingt. (12.10.)

Und wie unbehaust und verloren du dir vorkommst, als der Zug ohne dich, aber mit deinem Gepäck abfährt.

Und Hass mag Folge sein, Antwort ist er nicht. Hass ist das Ende, das Aus jeder Antwort oder Erwiderung, die Kapitulation vor dem Kontaktabbruch – was kein Ausdruck ist, sondern hässliche Beschönigung. Hass sagt nichts, weiß nichts, ist nichts als nur er selbst. Hass ist das schwarze irre Kreiseln in dich selbst, ohne je wieder aus dir hinaus ins Andere zu finden – ist nur mehr Hassen. Ist nichts, nichts als Hass.

Get well soon – Vexations
Get well soon – Rest now, weary head! You will get well soon
Hauke Harder – Painted cakes are real, too

Nicht zu verachten: Kein Buch, das – zu verschenken! – auf den Altpapiercontainer gelegt wird, bleibt liegen.