Gehauchte Post

Zu drei Gedichten von Uljana Wolf

Einmal brach ich mir das Bein, es war das schönste Erlebnis meines Lebens. Wer wieder die Augen öffnet, wo er doch in den Strudeln des gleichgültig dahinbrandenden Alltags zu ertrinken glaubte, dem leuchtet Kafkas kleines Bruchstück von der Herrlichkeit des Zerbrechens auf Anhieb ein. Jede Verletzung meines Körpers bedeutet ja den Zusammenprall mit einer Welt, die dadurch kurz aus dem Tritt geriet wie ich selbst. Beide waren wir im Taumel des Schmerzes betrachtbar, wirklich, wenigstens ein Stück. Verletzt zu werden, verwundet darniederzuliegen, sediert zu schwanken zwischen Person, Patient und Prosektur, ausgeliefert dem Schamanismus des baumkronengrünen Anästhesisten, „traumverloren tropfgebunden“, „tropfenweise aus dem schlauch ernährt“, wie es bei Uljana Wolf heißt, das alles bedeutet nichts anderes, als dass die Welt sich auf mich stürzte und dass ich, ja ich, ihre Attacke überlebte.
Wirklich? Wodurch? Als wer? Auf dem OP-Tisch, könnte man sagen, werden die Karten neu gemischt. So wie sich mir nach der Verwundung alle Fragen neu stellen: Wo hört die Welt auf, wo also beginne ich?
„die verschiebung des mundes“ heißt der Prolog in Uljana Wolfs Gedichtband „kochanie ich habe brot gekauft“. Den eigentlichen Beginn der Sammlung aber bildet ein Zwillingsgedichtpaar, „aufwachraum I“ und „aufwachraum II“, dessen exakter Doppelspiegel eben jene Grenzen ausleuchtet zwischen Welt und Ich, Träumen und Wachen, Schlafen und Sprechen. „wäre keine / grenze da in sicht“, heißt es im ersten, dem lichten der zwei Gedichte, „die uns erschließen könnte // aus der tiefe wieder aus dem postnarkotischen / geschniefe – blieben wir ganz nah bei diesem // ich“. Dagegen scheint das zweite Gedicht, die dunkle Entsprechung, ganz fern von diesem Ich, wenn es dort heißt: „meine liebe können sie mich hören // und hören kannst du nichts nur diese stille / in den schleusen sanitäres fegewasser“. Jeweils sieben Strophen zu zwei durchgehend identisch langen Zeilen haben die beiden Gedichte, so dass sie auf den ersten Blick völlig gleich aussehen. Blickt man nur lange genug auf das Druckbild ihrer Doppelseite und liest dabei „aufwachraum“, „aufwachraum“, „aufwachraum I“, „aufwachraum II“, so erscheinen vor dem Auge tatsächlich die zwei Lattenroste der Bettgestelle in dem sonst leeren Zimmer in den Tiefen des Papiers.
Wer liegt in den zwei Betten? Wer wacht da auf im Aufwachraum? Ist es einer, eine, oder sind es zwei? Zweimal wacht jemand auf, soviel ist sicher. Und so sehr sich die aus dem Narkoseschlaf mitgebrachten Bilder, Wörter und Klangfolgen voneinander unterscheiden, so identisch ist doch das erste Seufzen, der Hauch des Ach, mit dem beide Gedichte anheben, so identisch ist der Konjunktiv des an sich Zweifelnden, der da erwacht und denken muss, „ach wär ich“, „ach wär ich“, und ebenso identisch ist der Raum, den sein oder ihr Empfinden durchmisst, 14 Zeilen, die Sonettdistanz, ehe am Schluss hier wie dort das Wort steht für das Ankommen da, wo man vielleicht noch nicht man selbst ist, aber es doch wieder werden wird, wo man zu sich kommt und wieder beginnt.
„ach“ und „aufwachraum“ – es gehört zur feinsinnigen Kunst der Uljana Wolf, dass mit demselben Auftakt und derselben Schlusskadenz nicht nur beide Gedichte beginnen und enden, wodurch sie einen glaubwürdigen Symmetrierahmen erhalten, sondern dass zudem das so verwunderte wie schmerzliche Seufzen der Wiedererwachten hörbar im Raum klingt: So wie das Wörtchen „ach“ die Mitte des Wortes „aufwachraum“ bildet, so klingt der Hauch der Stimme dieser Einen, die da nicht gestorben ist, durch den kalten Raum und bildet dessen lebendige Mitte.
Lebendigkeit, Ringen ums Lebendigbleiben ist das eigentliche Thema der „aufwachraum“-Gedichte von Uljana Wolf. Dabei zeichnet diese so streng gefügten wie anmutig verspielten beiden Texte aus, dass von Lebendigkeit nicht nur darin die Rede ist. Lebendigkeit selbst stellt vielmehr die Strategie dar, mit der die Gedichte zunächst aufeinander und dann, als dynamische Formation, auch auf ihren Leser wirken. Den modus operandi dazu gibt das erwähnte Prologgedicht „die verschiebung des mundes“ vor, mit dem „aufwachraum I“ und „aufwachraum II“ in enger assoziativer wie struktureller Verbindung stehen: So wie nämlich dort das lebendige Haus die Lippen schließt, worauf der Himmel den Rachen öffnet und „aus dem dunstigen mund“ Regen fällt, Regen wie „lang / anhaltender atem“, „über / die wimpern des schlafenden / hinsprechend“, so verschieben sich Mund, Rede und Sprechen auch im „aufwachraum“ und wandern vom einen hinüber ins andere Gedicht, von der Einen, die da auf dem Lattenrost der Zeilen liegt und murmelt von Schafen und von Schwestertieren, hinüber zur Anderen, die dösend im Dämmern „Hafen“ versteht und schwarze Schwestern sieht. „auf einer übersetzbaren / matratze“, wie es im Titelgedicht von „kochanie ich habe brot gekauft“ heißt, ist zwischen den Texten und ihren Figuren eine Mundzumundbeatmung am Werk.
Die jeweils ersten drei Zeilen der beiden „aufwachraum“-Gedichte lesen sich in diesem Licht wie Variationen voneinander, ihr leichtfüßig jambischer Duktus erinnert an das Kinderspiel von der Stillen Post, wo die ins Ohr gehauchte Übermittlung Irrtümer und Fehler in Poesie umzuwandeln versteht: „ach wär ich nur im aufwachraum geblieben“ / „ach wär ich nie im aufwachraum gewesen“ sowie „traumverloren tropfgebunden unter weißen“ / „taub gestrandet schwankend in der weißen“ und „laken neben andern die sich auch nicht fanden“ / „barke neben andern barken angebunden“ lauten die drei Verspaare, die einander gegenüberstehen und sich Silbe um Silbe permutativ aufeinander beziehen. Erst mit der vierten Zeile geht jedes der beiden Gedichte seine eigenen Wege und prägt eigene Bilder aus: hier ein traumwandlerisches Schäferidyll, dort ein düsteres Strafgericht im „letzten hafen“, hier Hirten wie „große schwestertiere“, dort mit „tropf und teufel“ drohende Nonnen.
Das christlich-religiöse Metaphernfeld der beiden Gedichte ist so latent wie evident, auch in diesem Punkt beweist Uljana Wolf eine subtile Meisterschaft, die jeden Effekt verwirft zugunsten nachhaltiger Akzentuierung. So rasch sich die Permutation der beiden Gedichte untereinander verlieren muss und sie klanglich wie bildlich auseinander streben zu Weiß und Schwarz und Himmel und Hölle, so fest behalten sie doch in jeder Zeile ihren Spiegelcharakter bei. Jeweils in der Mitte der Gedichte huscht da eine wirkliche, eine Krankenschwester durchs Bild vor das Bett und fragt nach dem Befinden, fragt dort „meine liebe können sie mich hören“ und hier „wie groß ist dein schmerz?“
„das zahlenrätsel / mensch: von eins bis zehn auf einer skala sag / wie groß ist dein schmerz?“ Nicht nur dieser erschütterndste Vers der beiden „aufwachraum“-Gedichte ist es, was mich bei ihrer Lektüre immer wieder an einen der letzten Texte von Thomas Kling denken lässt. „taub gestrandet schwankend in der weißen / barke neben andern barken angebunden“, diese Barke, von der Uljana Wolf schreibt, das Boot des Fährmanns, der die Geister der Toten zur Unterwelt übersetzt, sie taucht auch in Klings Gedicht „Inhalator“ auf: „salzbarke, die in see sticht. um sofort // überzugehn in aufste auflösung. über- / gangslos hinflatternd“.
So unterschiedlich die Lösung der beiden Schwestergedichte für ihre Aufwachproblematik auch ausfällt, am Ende gelingt es doch erneut der sich noch immer am Leben findenden Stimme, was möglich ist wieder zusammenzuführen und Sinn zu ergeben, dann nämlich, wenn Uljana Wolfs wie gehaucht dezenter Binnenreim „dich zurückraubt in den traum von / stern und knebel fern vom aufwachraum“, „von andern schafen kaum zu unterscheiden / die hier weiden neben sich im aufwachraum“. Mit dieser gehauchten Post, der „atemmail“, wie Thomas Kling es nannte, „inhaliert uns der dichter“, die Dichterin Uljana Wolf.

Mirko Bonné © 2006. Erschienen in: BELLA triste 17, Hildesheim 2007