Meine Begegnung mit 2012

Rede vor dem Schriftstellerverband Shanghai

Sehr geehrte Damen und Herren, meine erste Begegnung mit dem neuen Jahr war ein Kuss. Vertraute Lippen. Meine Frau und ich tauschten auf dem Balkon Wünsche aus, dann sahen wir in die Neujahrsnacht, die großen Bäume, bis hinüber zum dunklen Friedhof Hamburg-Ohlsdorf, wohin vor den Silvesterfeuerwerken alle Vögel geflohen waren. Hinter den Pappeln am Bahndamm lag eine Insel der Stille, eine verschwiegene Küste, doch dort gab es nur Tote.
Das Leben konnte ich durchs Wohnzimmerfenster sehen. Da stießen Freunde mit Sektgläsern an, sie lachten, küssten und umarmten einander. Wir feierten das Ableben eines alt gewordenen Jahrs, es hatte uns ein Stück weiter gebracht und ein Stück weiter umgebracht. Schon begann ein neues, hoffnungsvoll und ewig erscheinend, als grüßte uns am Styx um Mitternacht der Fährmann. Weil wir keine Münze unter der Zunge hatten, nahm er uns nicht mit.
Das Jahr begann kühl. Bis in den April fütterte ich die Gartenvögel. Eine Schwanzmeise wurde zutraulich und landete morgens auf dem Balkon, um zuzusehen, wie ich rauchte und Emily Dickinson las. Doch als dann die erste Wärme kam und es über grauem Flieder wochenlang regnete, blieb auch diese Besucherin aus und flog lieber mit den anderen zur Alster. Noch Anfang Mai hatten die Robinien am Ufer kaum Laub. Erst im Juni knospten spärliche Blüten. Die Bienen unterkühlt, schlaftrunken. Keine Libellen.
Das Jahr begann nicht gut und wurde nicht besser. Die Krise in Europa ergriff nach den Griechen die Spanier. Der europäische Gedanke, ein Befriedungsgedanke, verkam peu à peu zu alter Missgunst und überwunden geglaubtem Mangel an Loyalität und Verantwortung. Jedes dritte Wort war Geld. Man war gezwungen, mit anzusehen, wie die Syrer sich umbrachten. Es drohte Krieg zwischen Iran und Israel, und in Italien stürzten bei Erdbeben Häuser und Kirchen ein und kenterte ein Kreuzfahrtschiff voller Leute, die Spaß haben wollten. Das Internet wuchs. Das Netz wuchs durch die Tage. Ein Wuchern. Schon zückten die Beschneider ihre Scheren.
Besser wurde nicht viel. Alles kam immer schneller immer näher. Was sich verbesserte, war offenbar meine Sorgentoleranz, meine Hinnahme. Ich lernte die Vorzüge und Risiken der Schonhaltungen kennen. Meinen von Rückenschmerzen durch die Tage gehetzten Körper nicht länger als leidigen Schatten sondern als im Licht meiner Empfindung mit mir sprechenden Ratgeber zu sehen, dazu forderte mich in seiner stillen Praxis für Traditionelle Chinesische Medizin Dr. Wang auf. In jedem Behandlungszimmer gab es eine ausschwenkbare Heizsonne. Unter ihrer glühenden Kugel betrachtete Dr. Wang meine Zunge. Er fühlte meinen tanzenden Puls. Und er betastete nicht meinen Rücken, den Herd der Sorge, sondern befühlte die Füße, auf denen ich mich dahinschleppte. Im Sprechzimmer saß er vor einer Wand aus hölzernen Kästen voller chinesischer Schriftzeichen. In jedem war ein anderes Heilkraut, und alle zusammen ergaben eine Art Kräutertastatur, auf der Dr. Wang tippte, um mein Leiden zu beschreiben.
Noch wenn ich abends am Alsterufer entlang durch Hayns Park ging, spürte ich die Nadeln in Rücken, Beinen und Füßen. Ich kochte Tee aus Pilzen, Kräutern, getrockneten Früchten, die aus Dr. Wangs Kästenwand kamen und vielleicht aus einem Garten im Guangdong-Guangxi-Hügelland stammten. Ich malte mir aus, wie vor hunderten Jahren eine Chinesin den gleichen Tee zubereitete, und wie ihr Mann ihn trank, der ein Schreiber war und von morgens bis abends unter Schmerzen kalligrafierte. Ich trank und beobachtete vorm Fenster den Trupp Meisen auf Futtersuche. Von den Schwanzmeisen las ich, dass es sie auch in China gab. Im Norden fand man sie bis in die Innere Mongolei, im Westen kamen sie bis Ningxia vor, und im Süden folgten sie dem Verlauf des Jangtse.
Noch im Winter begriff ich endlich, dass ich im Herbst in ein sommerliches China reisen würde, meine Damen und Herren! Der September als Writer-in-residence in Shanghai begann mir das Jahr einzuteilen. Ich übersetzte Emily Dickinsons Liebesgedichte. Eines der schönsten handelt vom Reisen, wie es sich die Dichterin vorstellte, denn verreist ist Emily Dickinson nie.

Mein Fluss, der fließt in dich –
Meer, blaues! Willst du mich?
Fluss fordert Antwort ein –
O Meer – blick gnädig drein –
Ich bring dir Wellen
Aus Schattenquellen –

Sag – Meer – Komm her!

Immer, wenn ich in Dr. Wangs Wartezimmer saß, blickte ich wie durch ein Zeitfenster auf eine Federzeichnung, die dort an der Wand hing. Man sah Bäume darauf, einen Fluss, einen Uferweg, auf dem Zwei sich gleich küssen würden. In der Nähe spielten Kinder. Vögel flogen zur Küste. Ich sah Emily Dickinsons Handschrift vor mir. Gedruckt hat sie ihre Gedichte nie gesehen. Die rasche Kalligrafie ihrer Schrift war genau die der Zeichnung aus dem alten China.
Zugleich ging ich mit meiner Übersetzung von Sherwood Andersons amerikanischem Klassiker „Winesburg, Ohio“ auf Lesereise. Ich rechnete aus, dass für die Fertigstellung eines neuen Gedichtbandes drei Monate blieben, und als dann „Traklpark“ abgeschlossen war, machte ich mich an den Mittelteil meines unterbrochenen Romans „Nie mehr Nacht“. Dessen Hauptfigur ist ein Zeichner, in Nordfrankreich soll er Brücken zeichnen, die bei der alliierten Invasion 1944 heftig umkämpft waren. Markus Lee aber will nicht mehr zeichnen, ihm erscheint alles zu bedeutsam. Er fühlt sich, könnte man sagen, gekidnappt vom Zwang zur Bedeutung. Daher denkt er auch über den Begriff „shanghaien“ nach: So hieß früher in Hamburg und anderen deutschen Häfen die maritime Praxis, einen Seemann betrunken zu machen, um ihn auf ein Schiff zu verschleppen. Erst auf hoher See erwachte der Matrose aus seinem Rausch und hatte bis zum nächsten Hafen an Bord zu schuften.
China und Shanghai, meine Damen und Herren, sind in Hamburg vielfach gegenwärtig. Chinesische Containerfrachter liegen an den Kais. Kaum ein Spielzeug meiner Kinder, das nicht aus China kommt. Chinesische Reedereien haben in der Hafencity Dependancen. In jedem Stadtteil gibt es chinesische Lokale. Je näher mein Herbst in Shanghai rückte, umso asiatischer wurde mir der Sommer. Ich las neue Gedichte von Yang Lian und alte von Li Bai und Du Fu. Immer mehr Chinesinnen und Chinesen schienen in der Stadt zu sein und liefen durch „Han Bao“. Hamburg, der Name, geht zurück auf die Hammaburg, ein Kastell aus dem frühen Mittelalter. Keiner weiß, wo es Jahrhunderte lang stand. Nur der Name blieb von der Burg: Eine „Hamme“ war zur Zeit, als Li Bai und Du Fu lebten, eine bewaldete Anhöhe in einer Schleife des Elbstroms.
Bestimmt haben Sie längst bemerkt, wie ich Ihnen Stück für Stück die Federzeichnung vor Augen führe, in der ich mich in Dr. Wangs Wartezimmer so oft verlor. Der Kuss an der Brücke, der Wald, die Vögel, die Kinder, der Weg am Flussufer hin zum Meer. Und bestimmt, meine Damen und Herren, haben Sie schon aus dieser kurzen Rede zum Antritt meines Aufenthalts in Shanghai erfahren, dass alle jene Motive in meinem Schreiben eine wichtige Rolle spielen. Überall sehe ich Brücken, Anknüpfungspunkte, Reisemöglichkeiten. Jede Dichtung erhebt das freie Wort und vergegenwärtigt die Liebe zum Leben. So heißt es bei Yang Lian:

Wildgänse schreiben im Flug
Das Zeichen für „Mensch“ –
Und finden mit allen Geschöpfen zum Licht.

Kinder werf ich hoch, hoch in die Luft,
Gönne der Sonne mein Lächeln.

Mit einem Lächeln freue ich mich auf die Zeit hier bei Ihnen, liebe Zuhörer, liebe Shanghaier. Ich freue mich auf die Eindrücke in einer Stadt, die meine Fantasie bewegt, seit ich ein Kind war.