Shiwagos Wölfe

Die Wölfe, die Shiwago auf dem verfallenden Gut Warykino auflauern, stehen nicht für die äußeren Gefahren, die der Arzt für Lara, ihr Kind und sich selbst mutmaßt – die Säuberungen durch die Bolschewiken, die Armut, der Neid, die Anarchie. Die Wölfe leben in der Schlucht nahe des Gutes, der „Schitka“. Sie sind Shiwagos innere Wölfe, die ihn wenig später zerreißen und ihn sein Leben verlorengeben lassen. Boris Pasternaks große Güte besteht auch darin, seine Figuren zu beschützen vor den Abgründen der Hauptfigur. (4.6.20)

Minutenlang steht der alte Mann vor dem Schaufenster und betrachtet gedankenversunken die Auslage des Münzgeschäfts. Sekündlich wird er jünger. (Berlin–Prenzlauerberg, 10.6.)

In die Bäume weht die Antwort, und sie heißt nicht Erfolg.

Drei Kleinanzeigen:
„Angler gibt auf.“
„Suche Hamsterkäfig, auch mit Hamster.“
Von den Zwillingen im Copyshop: „Wir verstehen was von Kopien.“

Höre ich Jazz, verbannt tief in die Nacht, und setzen dann die unvermeidbaren Saxofonisten ein, dann denke ich: Die Armen! Gebt ihnen eine Landschaft, gebt ihnen Zeit zum Atmen!

„Professor“ – ohne einen einzigen Tag lang studiert zu haben? Die Furcht vor der Konfrontation mit aktuellen, vor allem politischen Fragestellungen überwiegt die Freude über Möglichkeiten zu lebendiger Überlieferung. Und die Freunde tun so, als hätten sie es schon immer gewusst.

Die Lücke, deren fehlende Füllung man hört: die frühen Fleetwood Mac, denen die Stimmen von Stevie Nicks und Christine McVie fehlen. Solche Lücken müsste man im Voraus erkennen können – und bereit und imstande sein, sie zu füllen.

Vergiss dich. Hilfe kommt nur von anderen.

Am Rand des Supermarktparkplatzes schläft ein Mann im Blaumann an einen Baum gelehnt – in der schönen Abendsonne. „Stör ihn nicht! Er soll den Müßiggang genießen“, sage ich mir (flüsternd), während Leute (Verbraucher) ihn schon entdecken, wachrütteln, vertreiben. – Schlaftrunken, verloren steht er am Straßenrand – und sein Baum noch immer in der Sonne. (Steilshoop, 22.6.)

Heaven 17 – Penthouse and pavement

Seit Tagen beobachte ich das Rotkehlchen – es hat sehr lange, stöckchendürre Beine –, wie es in einem merkwürdigen Behältnis badet, das ein Kind im Innenhof vergessen haben muss. Es badet – das Rotkehlchen –, als wäre es das Kind, oder als wüsste es von dem Kind. Dann flattert es – erfreut, erfrischt, wie es scheint – davon, in den Strauch hinter dem Spielzeug oder auf die alte Wäschestange, und immer blickt es mich beim Baden an. Ob es mich für das Kind hält? (3.7.20)

„Habe den Flur tapeziert – grauenhaft. Es ist alles runtergekommen, ein einziger Dreck!“ – „Ich kann dir sagen! Eine Scheiße, wo du hinfasst!“ – „Pass auf der Treppe auf, du brichst dir was!“ – „Hab ich, hab ich zehn Mal, großer Gott!“ – Gesänge im Barmbeker Innenhof, hundert, dreihundert Jahre alt, gestern.

Crosby, Stills & Nash – Crosby, Stills & Nash

Ein aufrichtiges Hinweisschild: „Straßenbaumarkierung“ (Lokstedt, 6.7.)