Der Fahrstuhl des Jan Antonin Bat’a misst sechs mal sechs Meter und ist ein Büroraum mit Doppelschreibtisch, Klapptisch und -stuhl für die Sekretärin, mit Waschbecken, Telephonen, Weltkarte an der Wand, mit Fenstern und Regalen und Schubfachkommoden. Bat’as Lift erklimmt 16 Stockwerke in einer knappen Minute, das auf- und abwärtsfahrende Chefzimmer knarzt leicht, aber funktioniert auch 86 Jahre nach seiner Konstruktion tadellos. Bat’a hat den Inbegriff seines Tycoondaseins persönlich nie betreten, geschweige denn ist er mit dem Lift auf und ab gesaust, um, so sein Plan, die administrativen Angestellten in seinem Zlíner Administrationsturm zu jeder Zeit kontrollieren zu können. 1939 nahm er Reißaus vor der nazideutschen Okkupation und floh nach Brasilien. Sein Fahrstuhl beschert eine unvergleichliche Empfindung, die er selber sich womöglich vorstellte, aber nie hatte. Die sogenannte Wirklichkeit verliert eine für unverrückbar gehaltene Grenze. Sobald ein Schlüssel gedreht und ein Knopf gedrückt sind, scheint man mitsamt des Zimmers, seinen Wänden und allem, was darin ist, fliegen zu können.
In Zlín spielen im Spätsommer Nazareth. Ich habe an einer vergessenen Plakatwand ein verblasstes Konzertplakat gesehen, das Nazareth in Zlín für Herbst 2018 ankündigte. Sollten Nazareth seitdem in Zlín wohnen und alle drei Monate hier „Loud ’n’ Proud“ spielen?
Neonwerbung an einer Hauswand: EXPLICIT REALITY.
My business is oddity. Es ist seltsam, das Jan Antonin Bat’a nie wieder nach Zlín zurückgekehrt ist, oder nach Gottwaldov, wie Zlín 40 Jahre lang unter den Kommunisten hieß. Es ist seltsam, dass er sich als Zweitboss hat eine funktionalistische Villa bauen lassen, von der er wissen musste, dass der reduzierte und zugleich ergreifend schöne Bau den Unmut des Schuhpatriarchen auf sich ziehen würde. Ich finde es seltsam, und finde es gut, dass J.A. sich nicht beirren ließ. Monatelang, heißt es, hat er jede Zusammenarbeit mit dem großen Halbbruder Tómaš verweigert, der für sich beanspruchte, als einziger in einer repräsentativen Villa zu residieren.
Ist das hier eigentlich für irgendjemanden von Interesse? Ja, für mich und für die Menschen in und aus Zlín. Hier lebt für vier Wochen ein Deutscher in ihrer so besonderen Stadt, der weder Geld scheffeln noch andere unlautere oder gar feindliche Absichten hat. Mein Interesse an Zlín und seinen Leuten ist groß, und ihres an mir und meinen Beobachtungen und meinem Schreiben ist es nicht minder.
Auf meine Eintrittskarte in Form einer Stempelkarte stempelt die originale Stechuhr der Bat’a-Werke die Uhrzeit 10.17. Ich besichtige an die 20 Vitrinen mit Schuhen aus aller Welt, die frühesten sind Steinzeitschuhe, Nachahmungen der Sandalen des Ötzi.
Tom Stoppard kam 1937 als Tomáš Straussler in Zlín zur Welt, seine Eltern waren Juden, sein Vater einer der Ärzte im Bat’a-Krankenhaus am Ufer der Dřevnice. 1939 floh die Familie vor dem Zugriff der Nazis nach Singapur und Indien. Wie Jan Antonin Bat’a kehrte Tom Stoppard nie nach Zlín oder später Gottwaldov zurück, das Haus seiner Eltern, dass ich mir ansehe in der Straße aus identischen Häuschen für Ärzte und Ärztinnen, in denen heute kleine Familien und Senioren leben, hat er nicht wiedergesehen. Es gibt daran nichts, das an ihn erinnert. Was würde, freilich auf Tschechisch, auf der Plakette stehen? Hier wohnte von 1937–39 der Junge Tomáš Straussler mit seiner Familie. Als Tom Stoppard wurde er später ein gefeierter britischer Dramatiker und schrieb u. a. das Drehbuch zum Kinowelterfolg „Shakespeare in Love“.
Ein Fließband zur Schuhherstellung war etwa 20 Meter lang, zehn unterschiedliche Maschinen an jeder Seite des Bands, die Halle geteilt in vier Bereiche mit je einem Band und einer Stafette von Nähtischen an der Fensterfront. Der Lärm in der Halle war ohrenbetäubend – ein Ausdruck, der nichts mehr bedeutet, der selbst taub geworden ist. Lehrlinge verrichteten ab 14 Jahren dasselbe Arbeitspensum wie Arbeiterinnen und Arbeiter. Es gab außerdem zu verteilende Heimarbeit, und es galt das Verbot, im eigenen Garten Gemüse und Obst anzubauen, da die Arbeitskraft der Fabrik vorenthalten war.
Die mit füntausendstelligem Abstand größte Hausnummer, unter der ich je zu erreichen war: In Zlín wohne ich Fügnerovo nábřeží 5476.
Nach Ploština kommen meine Frau und ich an einem verregneten Sonntag zufällig. Wir fahren mit dem Wagen in die Slowakisch-mährischen Karpaten und werden hoch oben in der Mährischen Wallachei auf ein Betonmonument aufmerksam, dessen vier sternförmig angeordnete Stelen wie steinerne Flammen in den grauen Himmel ragen. Unterhalb des Mahnmals ein unterirdisches Ausstellungsgebäude, unweit davon liegt eine Siedlung mit Kirchlein und einer Handvoll Gehöften. Kleine Schautafeln vor jedem Gebäude beschreiben die Ereignisse in Ploština am 19. April 1945 einzig auf Tschechisch, Fotos zeigen Bauern und ukrainische Partisanen. Das Grauen, das am Tag vor Hitlers Selbstmord in Berlin hier geherrscht hat, ist spürbar, die Landschaft und ihre Stille bewahren es auf, indem sie zum Spiegel der Vorstellungskraft werden. Die Schergen von SS und Gestapo, die mit Hilfe zweier tschechischer Spitzel aus Zlín, zwei von der Arbeit angewiderte Arbeiter bei den Bat’a-Werken, in Ploština wüteten und 27 Einwohner der alten Pasekaren-Siedling erschossen oder in ihren von außen verrammelten und angezündeten Häusern verbrannten, die Männer des SS-Einsatzkommandos „Josef“ unter dem Kommando von Kurt Werner Tutter wurden für ihre Verbrechen nie zur Rechenschaft gezogen. Ich kann nicht beurteilen, wie wahrscheinlich es ist, dass dieselben Menschen auch für Václav Chads Verhaftung und Ermordung drei Monate zuvor in Zlín verantwortlich waren, denkbar ist es allemal. Das Grauen ist stets von Menschen ersonnen und von Menschen gemacht. Das Grauen ist ein Euphemismus und meint immer die Grausamkeit von Menschen an anderen Menschen.
Das Regional- oder Landesmuseum für Schöne Künste öffnet für uns sein Depot. Drei großformatige Gemälde Václav Chads und an die zehn Zeichnungen kann ich bewundern, darunter einen auf Holz gemalten Rubens-Kopf und ein spätes Selbstporträt.
In Jan Antonín Bat’as Villa ist heute das Lokalradio untergebracht. Als die Schuhfabrik verstaatlicht und Zlín umbenannt wurde in Gottwaldov, setzten die Kommunisten einen Plattenbau in den früheren Park.
Meine Bat’a-Schuhe damals muss ich mit sechs oder sieben Jahren bekommen haben, wahrscheinlich zur Einschulung 1971. Ein Jahr später wurde Wilhelm Genazino Schuh-Tester für den Bat’a-Konzern und blieb es für Jahre. Einen Monat lang hatte Genazino ein Paar Schuhe zu erproben, in Frankfurt und Mannheim und an der Riviera, bei Sonne und Regen, Schnee, Hagel und Frost, allem Schmerz zum Trotz stehen bleibend, kritzelnd, weitergehend in den Bat’a-Schuhen. Fragebögen. Die Schuhe durfte Genazino behalten. Mir hat nie einer einen Fragebogen geschickt. Ich hätte meinem Glück aber irgendwie Ausdruck verschafft!
Zlín verabschiedet mich mit einem halben Sonnentag. Noch einmal, wie zum endgültig erbrachten Beweis, dass ich hier war, werde ich fotografiert, diesmal am Ufer der Dřevnice. Zwei Fischreiher stehen im Wasser und wirken arbeitslos. Dann rollt ein dottergelber Trolleybus vorbei, und die Vögel mit den meterbreiten Schwingen steigen auf und fliegen davon über die Siedlung und den vietnamesischen Eckladen. Wir fahren Richtung Wien und kommen an Vnorovy vorbei, 1922 wurde dort Jan Skácel geboren. Die letzte Rast in Mähren machen wir in Břeclav, wo 1923, anderthalb Jahre später, Václav Chad zur Welt kam, aber nichts an ihn erinnert. Sein letztes Bild blieb die rasch aufs Papier gekritzelte und rot betuschte Aquarellzeichnung „Válečný motiv“, „Kriegsmotiv“, ein Behelfstitel.