„Ich betrachte dieses Heft, ich habe nur das Datum geschrieben, ich hebe den Kopf, ein Sperling schlägt am Himmel die Flügel, und voilà: Meine Seite ist geschrieben, der Vogel trägt gerade den ganzen Tag auf seinen Flügeln.“ Christian Bobin
Im Regal – dem „Sideboard“ – stehen sechs Geräte und blinken vor sich hin. Was ist ihre Aufgabe, ich meine: Was bedeuten sie? Was wollen die? Etwas wissen? Etwas mitteilen? Etwas vergessen oder vergessen machen? Etwas vermitteln oder unvermittelbar halten?
Seit vier Tagen schüttet es. Auf den Straßen keine Seele. Nur die Katze kommt frühmorgens, mittags und abends zu dir. Liegt auf deinem Schreibtisch vor dem grauen Garten, als würde sie sagen: „Schreib nicht, okay? Was soll das Ganze?“
Wunder geschehen – ich weiß es –, und mitunter sind sie elektrisch. Der Elektro-Installateur ist ein Amateur im besten Wortsinn: Er liebt, was er da tut. Für die Reparatur des Geschirrspülers will er kein Geld, auf keinen Fall. „Ich mache das für Sie“, sagt er, „ich mache das aber auch für mich, aus Neugier, als Herausforderung.“
In Marseille erkenne ich an den Hauswänden die alten Graffiti und Wandsprüche wieder, nicht die gleichen von vor 20 Jahren – Januar 1998 –, sondern dieselben. Auch in diese Stadt bin ich immer wieder zurückgekehrt – zufällig? Wohl kaum. Wie Frankfurt und Innsbruck ist Marseille eine der Hauptstädte in meinem poetischen Kosmos. Einige der besten Passagen aus „Ein langsamer Sturz“ nehmen in Marseille ihren Ausgang. In Marseille, im C.I.P.M., dem internationalen Poesiezentrum, einer der bedeutendsten Lyrikbibliotheken Europas, las ich im Sommer 1997 zum ersten Mal Gedichte von Ghérasim Luca und fing an, ihn zu übertragen. „Die verzweiflung hat drei paar beine …“ Die kürzeste Erzählung in meinem Band „Feuerland“ heißt „Tauchen“ und spielt in Marseille – sie ist ursprünglich ein ausgegliedertes Kapitel aus „Ein langsamer Sturz“, doch ich habe die Geschichte 15, 17 Jahre lang immer wieder bearbeitet und umgeschrieben. Ich war dafür immer wieder in Marseille, zumindest in meiner Vorstellung. Hier nahm mein Leben eine Wendung, die nicht abgefälscht werden konnte durch Geldverdienenmüssen und das Unheil der sogenannten Sachzwänge. In Marseille erfuhr ich im Januar 1998 vom Tod meiner Großmutter. Im Januar 2011 reiste ich mit einer Delegation des PEN nach Sanary-sur-Mer, um eine Plakette zur Erinnerung an deutschsprachige Exilautoren zu enthüllen, eine Reise, die auch nach Marseille führte, zu einer Lesung in einem Café am Alten Hafen. Ich sah im Panier, dem alten Korbmacherviertel, wo heute größtenteils Nordafrikaner leben und Künstler ihre Ateliers haben, die Straße wieder, in der meine Wohnung seinerzeit war. Marseille ist meine Nekropole. Fast alle Freunde, mit denen ich je dort war, sind keine Freunde mehr. (27.1.)
Fotos: Treppe zum Bahnhof Marseille-St. Charles (1), Bibliothek des Centre international de poésie Marseille (2), Rue du refuge, Marseille (3)