Flieh, Himbeerjohnny, flieh

O Cantinho do António
Rambachstraße, Hamburg

Absolut ehrlich und richtig aufrichtig gesagt mag ich die Kneipe, die unterhalb meines Schreibzimmerfensters liegt, am liebsten, wenn sie geschlossen ist, d. h. dienstags, wenn am Abend eine verblüffende Stille durchs Portugiesenviertel geht und das ganze Gelichter vorüber, vorbei, runter zum Hafen zieht, um sich noch Schiffe anzugucken, Cargofrachter oder so einen hässlichen hochgezüchteten Autotransporter aus Khuala Lumpur, wie er reinkommt oder rausfährt. Vollkommen still da liegt die Straße, kleine Straße, in der ich wohne. Ein bisschen Lärm vom Spanier, ein bisschen Geplärre vom Italiener, wenn die Türen auffliegen, und oben, an der Kreuzung, zwischen schwedischer, finnischer, norwegischer und dänischer Seefahrerkirche, die Touristen, die Kleinportugal bevölkern und es leer essen, damit täglich die Müllwagen kreisen können wie die Raumschiffe vom Abfallstern. Sonst nichts.
Unterm Fenster absolute Ruhe, Heidi guckt nicht nach den Lieferanten, die Holstenlaster sägen sich nicht durch die Gasse, so dicht an den parkenden Wagen vorbei, dass immer eine Autoalarmanlage anspringt, António mit dem Mopp wischt den Kneipeneingang nicht aus, keine stinkenden Fladen auf dem Trottoir, über das schon Hans Albers die Schritte gesetzt hat, kein alter müder grauer fetter sogenannter Hund, der da halb auf der Straße und halb in der Kneipe liegt. Die Fensternachbarn in ihren Wohnungen, nicht bei António, denn es ist Dienstag, Kneipe hat zu. Und oben am grünen Fenster meines Zimmers zum Schreiben ich, mit einer Nacht vor mir, die Arbeit verspricht und Schlaf, ehrliche, aufrechte Träume, Schiffe, Pötte, die tutend herein und hinauskrauchen, nichts, nichts, nichts, nichts, verblüffend, nicht mal das Mädchen mit den Froschaugen, nicht mal der Typ, der während der WM ein Nationaltrikot nach dem nächsten anhatte, so dass er von Spiel zu Spiel von Anderen durch die Gegend gestoßen und immer aufs neue ausgestoßen und immer zum Himbeerjohnny gekürt wurde, was, wie ich befürchte, seine Absicht war.
Einmal sprach es mich an, das Mädchen, und seine Froschaugen musterten mich dabei, als es mit verrauchter Stimme fragte, ob ich ihm den Glibber von der Hose lecke, worauf ich sofort und ohne nachzudenken reißaus nahm über die Straße, durch zwischen den zwei Falschen Akazien, den Motorrollern, rein ins Haus und rauf an mein grünes Fenster.
Absolut aufrichtig und richtig ehrlich gesagt ist alles, worüber ich dort oben noch schreiben kann, die Kneipe, die da unten liegt, ich schreibe darüber, wenn sie geschlossen ist, d. h. dienstags, aber auch während des Rests der Woche, wenn am Abend ein verblüffender Lärm durchs Portugiesenviertel geht und das ganze Gelichter nicht vorüber, runter zum Hafen zieht, sondern pfeift auf die Schiffe, die reinkommen oder rausfahren. Ist eh bloß ein Cargofrachter oder so ein zerbeulter hochgeschossiger Autotransporter aus Singapur. Sagenhafter Radau in der Straße, kleine Straße, in der ich wohne, bissiger Lärm vom Spanier, beißender vom Italiener, wenn die Türen offenstehen. Und oben, an der Kreuzung, zwischen schwedischer, finnischer, norwegischer und dänischer Seefahrerkirche, die Terrouristen, die Kleinportugal bevölkern und es ratzekahl leer mampfen, damit täglich die Müllwagen kreisen können wie die Raumschiffe aus der Abfallgalaxie. Sonst passiert bei mir eigentlich nichts.
Unterm Fenster ruhigste Absonderlichkeiten, Heidi guckt stundenlang nach Lieferanten, Astralaster sägen sich durch die Gasse, so dicht an den parkenden Wagen vorbei, dass immer drei Autoalarmanlagen simultan anspringen und es einem Alarmanlagenchor zu lauschen gilt, mit dem Mopp António wischt den Kneipeneingang aus, dreimal, siebenmal, immer neue süß duftende Blumenfladen auf dem Trottoir, über das immer so ein unsterblicher Hans Albers die Schritte setzt, mein alter dürrer Lieblingsköter liegt halb auf der Straße und halb in der Kneipe, kein Fensternachbar in seiner Wohnung, alle im Nikotinaquarium von António, denn es ist ja nicht Dienstag, Kneipe hat auf. Nur oben am grünen Fenster meines Zimmers zum Schreiben ich, mit einer Nacht vor mir, die Schauen verspricht und Leben, absolut ehrliche Pisser, vollkommen aufrichtige Spötter, die tuten, blasen und krauchen, alles, alles, alles, alles, und das Verblüffendste das Mädchen mit den Froschaugen, das sich während der WM in einen Typen verliebte, der ein Nationaltrikot nach dem nächsten anhatte, so dass er von Spiel zu Spiel von Anderen durch die Gegend gestoßen und immer aufs neue ausgestoßen und immer zum Himbeerjohnny gekürt wurde, was, wie ich befürchte, nicht seine Absicht war.
Ich sah sie da stehen, das Mädchen mit den Froschaugen und ihn mit dem Südkoreatrikot, obwohl Deutschland gegen Schweden spielte, der abseits gestanden und geraucht hatte, und durch den Kopf schoss mir eine Frage, die ich den beiden gern gestellt hätte, die Frage nämlich, warum ich sofort und ohne nachzudenken reißaus nehme über die Straße, wenn ich vor der Kneipe zwei einander küssen sehe, durch zwischen den beiden Robinien, den Motorrollern, rein ins Haus und rauf an mein grünes Fenster.
Ehrlich aufrichtig und absolut richtig gesagt kenne ich den, der dort oben schreibt, gar nicht, ich kenne zwar die Kneipe, die unter seinem Fenster liegt, aber ich schreibe nicht darüber, ich gehe bloß auch für mich verblüffend oft durchs Portugiesenviertel und mit dem ganzen Gelichter daran vorüber, das es runter zum Hafen zieht, wo der Elbwind um die Schiffe pfeift, die Cargofrachter oder Autotransporter aus Shanghai, wie sie reinkommen oder rausfahren. Von Radau in der Straße, einer kleinen Straße, weiß ich nicht viel, ich wohne woanders, Lärm vom Spanier, vom Italiener, kann sein, vielleicht wenn die Türen aufstehen. Nur oben, an der Kreuzung, zwischen schwedischer, finnischer, norwegischer und dänischer Seefahrerkirche, bevölkern Touristen Kleinportugal und essen alles, alles, alles, alles auf, damit täglich die Müllwagen kreisen können wie die Raumschiffe aus dem Abfallall. Sonst passiert dort eigentlich wenig.
So viele Fenster, und hinter jedem wohnt wer. Heidi achtet auf die Lieferanten, dass die Bierlaster sich nicht so durch die Gasse sägen, dicht an den parkenden Wagen vorbei, damit keine Autoalarmanlage anspringt und es aus der Nachbarschaft Beschwerden regnet, António wischt mit dem Mopp den Kneipeneingang aus und stellt Blumenkästen aufs Trottoir, die Hans Albers dann erst mal begießt, so nämlich heißt der alte Köter, der immer halb auf der Straße und halb in der Kneipe liegt, die Fenster sind alle mehr oder minder Nikotinaquarien, nur Heidi und António, die rauchen schon lange nicht mehr. Und oben an seinem grünen Fenster er, egal ob nachts oder bei Tage, schaut runter aufs Leben, ehrlich, Pisser, allen zum Spott, von Tuten und Blasen keine Ahnung, und dann das Verblüffendste, dass sich ausgerechnet diesen Typen das Mädchen mit den Froschaugen angelt. Während der WM hatte er nie das Nationaltrikot an, wurde von Spiel zu Spiel von Anderen durch die Gegend gestoßen und immer aufs neue weggestoßen und immer zum Himbeerjohnny gekürt, was, wie ich befürchte, unsere volle Absicht war.
Ich sah sie da stehen, das Mädchen mit den Froschaugen und ihn mit dem Schwedentrikot, obwohl Deutschland gegen Italien spielte, der abseits gestanden und geraucht hatte, und durch den Kopf schoss mir eine Frage, die ich den beiden gern gestellt hätte, die Frage nämlich, warum so einer nicht ohne nachzudenken reißaus nimmt über die Straße, bevor er vor der Kneipe zusammengebrüllt wird. Einander küssend standen sie da, unter den Bäumen zwischen den Motorrollern, sind dann rein ins Haus, und oben sah man sie noch an ihrem grünen Fenster.

Mirko Bonné © 2007
Erschienen in: Das Hamburger Kneipenbuch, Berlin 2007