Steintal

Manchmal meint er, unter Wasser zu sein. Im Kollern der Steine auf dem Grund kommt er sich wie der zertrümmerte Frühling vor.
Die Umnachtung, die Lenz im Steintal befiel, war sehr alt, und er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie wuchs. Daher das Fieber, mit dem er seit seiner Ankunft in Waldersbach am 20. Januar mit Oberlin auf die Suche nach Gründen für den Wahn ging. Außer Frage, dass er 1778 siebenundzwanzig wurde. Ja, er war Dichter, Übersetzer, Theologe vielleicht, aber einer der Stücke schrieb und Shakespeare las. Als Hofmeister war er viel herumgekommen, hatte es aber überall ähnlich abschüssig gefunden.
Sicher war immerhin, dass er aus Livland kam und Jakob Michael Reinhold Lenz hieß. Aber was das bedeutete? Büchner beschreibt lebendig einen der vielfältigen Versuche des verwirrten Lenz, das schwarze Loch, das ihn zu verschlucken droht, einzukreisen. In seinem Zimmer in der Dorfschule eröffnet der Pastorensohn dem Gottesmann Oberlin einen umfassenden Überdruss: „die Meisten beten aus Langeweile“, sagt Lenz lachend, „die Andern verlieben sich aus Langeweile, die Dritten sind tugendhaft, die Vierten lasterhaft und ich gar nichts, gar nichts, ich mag mich nicht einmal umbringen: es ist zu langweilig!“
Als Oberlin sich unwillig abwendet und gehen will, fügt Lenz mit unheimlichen Augen an, er wünschte unterscheiden zu können, ob er träume oder wache: „Sehn Sie, das ist sehr wichtig, wir wollen es untersuchen“.
Lenz findet in den Untiefen seiner Fantasie einen zweiten Grund für den schlaflosen Zustand. Unerwiderte Liebe hat ihn grenzenlos enttäuscht. Der Sommer vor sechs Jahren geht ihm im Steintal nicht aus dem Sinn, denn damals nach Straßburg, in Sesenheim am Rhein, fühlte er sich am Leben, war ehrgeizig, ja, und empfand es als Schmach, Friederike nicht lieben zu dürfen, weil sie Goethe liebte, obwohl der längst über alle Berge war.
Welt, wozu, wenn das liebste Mädchen, ja was: verschwunden ist? Lenz irrt durch die Vogesen, durch Fouday, Bellefosse, Waldersbach, Fouday, Belmont und wieder Fouday. Spechte klopfen und Krähen krächzen ein Gedicht, das vielleicht von Goethe ist, vielleicht von ihm selbst, einerlei: „Wo bist du itzt? … Komm bald zurück! Sonst wird es Winter werden / Im Monat Mai.“
Im Sommer ’72 in Sesenheim waren sie junge Wilde. „Götz“, „Werther“ und „Hofmeister“ gab es nicht. Goethe empfand Lenzgen bald als Last, mit dessen Eseleyen wollte er sich nicht länger abgeben. Im Steintal denkt Lenz gleichgültig an den Freund von früher. Ruhm! Wie ein in die Nacht geträllertes Lied, um böse Geister zu verscheuchen, kommt ihm alles Dichten vor. Friederike Brion kann er nicht vergessen, so wenig wie sie Goethe vergessen konnte. Er hört sie noch: „Ich kann ihn nicht verlassen.“ Und vielleicht sogar, um das Gefühl mit ihr zu teilen, erklärt auch er sich zum Verlassenen.
Manchmal kommt er sich wie das Steintal persönlich vor. Einmal glaubt er, ein Mädchen, das im Nachbardorf gestorben ist, wiedererwecken zu können, und verzweifelt darüber, dass das Kind tot bleibt. Er ist überzeugt, dass es Friederike hieß.
Nannte er sie Rike, Frieda, Fritzi? Peter Schneider schreibt in seinem Roman „Lenz“, er habe mit ihr geschlafen, und mehr sei davon nicht zu sagen. Und Sigrid Damm in „Vögel, die verkünden Land“: „Die Tage in Sesenheim werden ihm sein Leben lang gleich einem Traum erscheinen.“
Aus Lenz’ Gedicht „Wo bist du itzt“ klingt auch nach 240 Jahren die Musik der Bedeutungen. Jede karge Silbe sucht. Lenz schreibt in der Weise der Volkslieder, nah an Shakespeare. Was verstehen die Leute von Dichtung? Viel. Jahreszeitenartig gliedern vier Strophen das Gedicht, es beschwört die Rückkehr, doch weiß von nicht aufzuhebender Trennung: Man hört, etwas fehlt, jede zweite Zeile fällt aus dem Blankvers, irritierend unvollendet.
Mitunter wälzt er im Steintal eine Nacht lang einen Reim hin und her. Lavater sagte: „So bleibts auf ewig bey der Sentenz: ’S ist alles verloren an Michael Lenz.“ Hat er dann im ersten Singen der im Tal überwinternden Vögel den Klangbaustein gefunden, widert es ihn schon an. „Zwar weiß ich noch nicht, wie ich töte, / Doch wen, das weiß ich, Goethe.“
Er stürzt sich aus dem Fenster, kugelt sich aber nur den Arm aus. Umbringen wollte er sich nicht, bloß den Schmerz spüren. Oberlin lehnt es ab, ihn zu geißeln: „Lieber sollte man ihn küssen.“
Als er in Weimar noch vorgelassen wurde, empfing ihn Goethe einmal im Gartenhaus am Stern. Am offenen Fenster stand eine Dame mit Schleierhut, die Lenz nicht vorgestellt wurde, weshalb er sie nur beiläufig, doch geziemend grüßte. Draußen blühte der Goldregen, und Lenz sprach von einem Theater für die Leute und schüttelte die blonde Mähne, wenn ihn Goethes Schweigen und die Einwürfe der Dame am Fenster konfus machten.
Er dachte an seine „Soldaten“, wo Rammler sagte: „Madame, halten Sie das Maul, oder ich brech Ihnen Arm und Bein entzwei und werf Sie zum Fenster hinaus.“
„Nun aber geh, die Zeit ist kein Suppenhuhn, das wir immerfort teilen können.“ Goethe legte ihm die beringte Rechte auf die Schulter, und die Dame nickte. Irgendwo, an irgendeinem Rand erwähnt Goethe, die Herzoginmutter, die sich nicht zu erkennen gab, und er selbst, Geheimer Legationsrat, hätten Lenz einmal in so inkommodierendem Zustand erlebt, dass man ihn an die frische Luft wies.
Büchners Lenz ist auch deshalb so ergreifend, weil dort Erzählung tatsächlich versucht, Licht ins Dunkel zu bringen. Die Umnachtung ist nicht von Natur oder Gott gegeben, nur weil die Leute nichts gegen sie auszurichten wissen. Sie beten, wie sie in die Bäume auf den Schneefeldern sehen. Büchner suchte nach einer poetischen Ordnung in der Verfinsterung von Lenz’ Vorstellungen, bestimmt aber hätte ihn ebenso interessiert, ob von schizophrener oder manischer Psychose bei Lenz zu sprechen war.
Oberlin ergibt sich in Gott. „Ich empfehle den bedauerungswürdigen Patienten der Fürbitte meiner Gemeinen“, schreibt er in der Rechtfertigung, weshalb er Lenz aufgeben müsse. Eine der drei Abschriften von Oberlins Bericht liest Georg Büchner.
„Lange lag er auf steinigem Acker und sah staunend das goldene Zelt der Sterne. Von Fledermäusen gejagt, stürzte er fort ins Dunkel.“ Lenz’ Taumel prägt durch Büchner auch Trakl, dessen „Traum und Umnachtung“ etwa einen steintalartigen Alb schildert. „Ich bin für nichts auf der Welt“, sagt Lenz bei Robert Walser. Lieber will er verworfen sein als gar nichts sein. Bei Celan findet er im „Gespräch im Gebirg“ Geschwister: „wir hier unterm Stern, wir, die Juden, die da kamen, wie Lenz, durchs Gebirg“.
Für Lenz war der Dichter Entdecker des Unbekannten, daher blieb er, anders als Goethe, zeitlebens Reisender. Überall „Hieroglyphen“. Aber er fand einfache, verstörende Worte für seine „unbehelfsame Existenz“. Kurz vor dem Bruch und der von Goethe betriebenen Ausweisung aus Weimar schrieb Lenz in einer Ode an Charlotte von Stein: „Ich aber werde dunkel sein / Und gehe meinen Weg allein.“
Nach der Entfernung aus dem Steintal kehrt er zunächst nach Straßburg zurück. Am 9. Februar kommt er dort an. In Sesenheim soll er sich vor Friederike Brions Augen zu erstechen versucht haben. Sie schreibt Goethe davon, der über die „lächerlichsten Demonstrationen des Selbstmordes“ nur den Kopf schüttelt. Klinger lässt Lenz in Emmendingen kahl scheren, nackt stürzt er ihn in die eiskalte Elz zu für heilsam gehaltenen Überraschungsbädern, bains de surprise. „Curirt sey er, er sey geheilt!“, schreit Klinger am Ufer. Lenz ist unten im Wasser bei den Steinen.

Veröffentlicht unter dem Titel „Ich aber werde dunkel sein“ (deutsch/englisch) in: Close Up – Magazin des Young Directors Project der Salzburger Festspiele 2012.
Mirko Bonné © 2012