Musik als Zustand von Musik

Zu Wolfgang Rihm

Am Tag nach dem Tod ihres Vaters schrieb die Dichterin Emily Dickinson: „This is Night – now – but we are not dreaming.“ Der Tod des geliebten Menschen öffnet die Wirklichkeit, alle dunkle Struktur liegt mit einem Mal offen da. Man kann keinen Vogel hören, ohne rot zu werden.
Schatten, Körper, die Droge Atem. So einer schlagartig offenen Struktur der Trauer und Angst geben Wolfgang Rihms Versuche zu einer Musik im Gedenken an Luigi Nono Ausdruck. Cantus firmus und Ricercare loten aus: wandernde Stille, im Schatten Schritte, Menschengeräusch. Rihm bringt den Freund und Lehrer noch einmal zu Gehör. Weder als Abgesänge noch Nekrologe auf Nono, „wohl aber als Versuche, den Dialog als Monolog weiterzuführen“, will Rihm die verinnerlichten Gesten verstanden wissen. Nonologe. Auch deshalb wird der Abschied, der zu Beginn des Cantus als Fortgehen und ins Schloss fallende Tür zu hören ist, stets neu durchgespielt – ein Hinauszögern, gedehnte Zeit.
Feierliche wie unerbittliche Glocken von Nonos Venedig erschallen. Im Ricercar läuten sie noch immer – doch setzt die Musik der Schwermut bereits mehr entgegen: Sie wirkt zerklüftet, suchend, nervös. Alles ist wieder unterwegs. Noch ist Nacht. Lauschende Blicke ins Finstere und den Abgrund scheinen bei Wolfgang Rihm stets die Vorstellung von Brücken auszulösen, einem Weg hinüber, nur weg.
Den bei aller Verstörtheit zuinnerst lebenswarmen Ton hat Rihms Ricercare ebenso mit John Dowlands sieben Tränenpavanen gemeinsam wie die venezianischen Anklänge an Brücken und fließendes Wasser. Wahrhafte Tränen, Lachrimae verae, die siebte Art Tränen, mit der Dowlands Kummererkundung ausklingt, ist über 400 Jahre alt. Moden, Motetten, Dämonen, Diskurse – alles wandelbar. Das Unglück des Einzelnen aber bleibt eine Zumutung. Seit 400 Jahren ist John Dowland tot, und ich höre seine Verzweiflung und sein Aufbegehren.
Nie sei es ihm darum gegangen, Musik zu komponieren, vielmehr suche er nach einer Ausdrucksart, die wie Musik klingen könne: durch und durch sinnlich, nicht vorausgesetzt, sondern wiedererkannt, „Explosion einer Erinnerung in einer abgestorbenen dramatischen Struktur“. Wolfgang Rihm mag damit das welthaltige Erzählen von Sinfonie und Oper meinen, das die Dekonstruktionen des 20. Jahrhunderts nicht überdauerte, doch in seiner Musik bietet Rihm dem Absterben die Stirn, er setzt auf Wiederbelebung. Überall hörbare Versuche zu einem Gespräch. Der Flexibilität von Werkfolge und -cluster ist es stets um Übersetzung, Überlieferung, Übermalung zu tun.
Ein seltsames Vertrauen erfasst einen, wenn man Rihm hört, was vielleicht daher rührt, dass hier Musik bei großem Ernst doch Spiel ist. Auch Webern kann ich nicht hören, ohne Georg Trakl vor mir zu sehen und dabei an die Sechs Bagatellen nach sechs Gedichten Trakls zu denken: „Sonne aus finsterer Schlucht bricht.“
Bei Weberns Sechs Stücken mag man Zeuge von Absterben und Zertrümmerung musikalisch-dramatischer Erzählbarkeit werden, und doch ergreift noch die Darstellung dieses Verfalls. Warum? Das entfesselte Gewitter am Ende des vierten Stücks markiert den Kipppunkt von stiller Trauer und stiller Betrachtung. Der erinnerte Klang der Glocken wird zum Radau der Abgründe, die sich in jedem Zimmer und der kleinsten Unterhaltung auftun. Die schonungslose Steigerung ins Unerträgliche ist so innerlich wie äußerlich, und noch immer empfindet man ihre Dramatik als vertraut und doch fremd, unmittelbar unerklärlich, unverbraucht.
Bei Rihm stehen Stille und Klang in einem notgedrungen maschinelleren, wechselseitig analytischen Verhältnis. Alles bei Webern ist Ausdruck, expressiv Moment, nie pointilistisch, vielmehr Punkt für Punkt festgehalten. Man hört, dass es für ihn die Seele noch gibt, wie Trakl ist er Chronist ihrer Zerrüttung. Für Wolfgang Rihm ist die Zerrüttung weder Albtraum noch Angst, sondern zu verwandelnde Realität. Der zwischen 1983 und 2007 permutativ entstandene Chiffre-Zyklus versucht eine Musiksprache zu finden, die von Verlaufs- und Verarbeitungsvorgaben frei ist – eine „freie Setzung des Einzelereignisses, unherbeigeführt, folgenlos“. Mit Hilfe einer „Klangschrift“, an deren Entstehung man staunend teilnimmt, sucht Rihm nach dem Zirkelschluss, zugleich aber dem Fluchtweg aus dem geschlossenen Kreis in die Lebendigkeit: „Suche nach Musik als Zustand. Musik als Zustand von Musik.“
Zeitgleich mit Trakl und Webern arbeitete Kafka an der Auslotung möglicher Darstellungen von zertrümmerter Wirklichkeit, auch er steht als einsilbiger Torwächter im Lärm vorm Eingang zu einem Circus maximus, in dessen Vergnügungsshows es kein Tabu gibt. Silence to be beaten, Rihms zweiter Chiffre-Versuch, folgt kafkaesken Impulsen, ja lässt sogar zu, das Stück als klanglich-narrative Übertragung, als Soundtrack zu In der Strafkolonie zu hören. Detailliert wird dort ein Hinrichtungsapparat aus drei Maschinenteilen beschrieben: Der Zeichner wandelt Sätze und Regeln in Bewegungsimpulse um, die an die Egge weitergeleitet werden. Ihre Stacheln punktieren dem aufs Bett Geschnallten Wörter ins Fleisch, bis ihn die Tätowierung zu menschlichem Schrott erklärt: Die Egge wirft ihn zu seinen zerrissenen Sachen in eine Grube.
Nach einem stillen Auftakt beginnt das Klavier hell zu hämmern. „Inschriften“ nennt Rihm solche Klangchiffren. Der mehrdeutige Titel Silence to be beaten schließt ergebenes Sichfügen aus. Das Stück setzt auf Attacke, Perspektive: „Schweigen, aus dem Klänge herausgeschlagen werden“. Zugleich aber wird in dem Duell auch das Gegenüber dargestellt. Immer wieder ergeben sich laut Rihm „Klänge, in die Schweigen hineinbricht (oder aus ihnen herausragt)“ – unwirkliche Momente, die auch Kafka schildert, etwa wenn es von dem Tötungsapparat heißt, er funktioniere lautlos und entschwinde durch die Stille seiner Arbeit förmlich der Aufmerksamkeit.
Die Aufmerksamkeit für die stillen Manöver des maschinisierten Unwirklichen teilt Rihm mit seinem Lehrer und Impulsgeber Karlheinz Stockhausen. In dessen Kreuzspiel von 1951 wird nichts Zufall oder Ausdeutung überlassen, die Stille ist Teil von Partitur und Aufführung, die Dirigent und Ensemble verwaltungstechnisch akkurat in Musik verwandeln. Kreuzspiel war auch deswegen ein Skandal, weil es gleich drei Grundpfeiler der verkrustenden Adenauerzeit angriff: Gottgläubigkeit, Kunstgläubigkeit, Maschinengläubigkeit. Indem sich Oboe, Bassklarinette, Klavier, drei Schlagzeuger und Dirigent ins Labor von Stockhausens Versuchsanordnung zu begeben haben, wird dem Zuhörer die Harmoniehörigkeit ausgetrommelt. Der Dirigent sitzt. Menschliche Unzulänglichkeiten werden elektronisch getilgt. Dass Stockhausens Klang-System der Schönheit des Maschinellen huldigt, darf bezweifelt werden, und erst dem heutigen Hörer erscheint Kreuzspiel vielleicht rätselhaft oder sogar warm.
Wenn sich von Stockhausen behaupten lässt, dass er Weberns punktuelle Musik systematisierte und damit dem System den Spiegel vorhielt, so hat Rihm ähnlich zeitübergreifend Stockhausen zum Tanzen gebracht. Die zwischen 1993 und 2006 entstandene Sphäre ist Teil einer „plasmatischen Generation“ von Séraphin-Stücken, die neben weiteren literarischen Inspirationsquellen auch die Malerei und deren Übermalungstechniken in Musik setzt.
Das chinesische Schattentheater, das der königliche Unterhalter Séraphin 1781 in Frankreich einführte und das erst Baudelaire und später Artaud einen radikalen Wandel der modernen Bühne fordern ließ, nutzt Rihm, um fast so etwas wie den Entwurf zu einer Universalkunst zu Gehör zu bringen. Röhrenglocken, Streicher, Trommeln, Flöte, Harfe – das ganze Ensemble erzeugt ein energetisches Geflecht: Klang-Körper-Bild-Theater-Stück.
Durchscheinende Klangflächen inszenieren den jeweils sichtbaren Moment. In der Séraphin-Sphäre beschäftigt Wolfgang Rihm einmal mehr das Dilemma der verstreichenden Zeit: Gleichzeitigkeit mit dem Hörbaren, dem Lebendigen, ist nicht gegeben, Musik muss sie immer neu herstellen.

Erschienen unter dem Titel „… die Droge Atem.“ in: Kontinent Rihm, CD mit Werken von Wolfgang Rihm, John Dowland, Anton Webern, Karlheinz Stockhausen. Col Legno, Wien 2012
Für das Booklet: Mirko Bonné © 2012