La pluie

Zu einem der letzten Gemälde von Vincent van Gogh

Im letzten Monat seines Lebens, im nicht sonderlich heißen Juli 1890, malte Vincent van Gogh beinahe täglich ein Bild. Nach seiner Entlassung aus der Heilanstalt von Saint-Rémy bei Arles war er im Mai in die Nähe von Paris gezogen, wo sein Bruder Theo lebte. In Auvers-sur-Oise mietete er sich ein Gasthofzimmer. In Paul Gachet, einem Arzt und passionierten Maler, fand er einen Gefährten. Anderthalb Jahre war es her, dass er mit einem Rasiermesser Gauguin attackiert, sich selbst ein Stück eines Ohrs abgeschnitten und die grausige Trophäe einem Bordell zum Geschenk gemacht hatte. Unzählige Male sollte die an sich nichtssagende Anekdote in den kommenden hundertzwanzig Jahren weitererzählt werden.
In Auvers lebte er auf. Dr. Gachet begleitete ihn auf die Felder, in den Wald und an die Ufer der Oise, wo van Gogh Skizzen anfertigte und malte, Heuschober, Kühe, Bauern, Boote, Weinberge, Pferdewagen, Mohnblumen, Weizen, Gärten, das Schloss und Dr. Gachets Kinder. Von innerem Brausen ergriffen, scheint die Kirche von Auvers, wie er sie darstellte, aus allen Fugen zu bersten.
Am 6. Juli hatte er in Paris seinen Bruder besucht, der ihn vor einer dramatischen Verschlechterung ihrer finanziellen Lage warnte. Tief getroffen und verzweifelt darüber, Theo zur Last zu fallen, kehrte van Gogh nach Auvers zurück. Drei Wochen lang malte er noch weiter, ehe er mit Staffelei, Palette und einem Smith & Wesson-Revolver, Modell Schofield, Kaliber 45, in ein Getreidefeld ging und sich in die Brust schoss. Er schleppte sich noch in sein Zimmer zurück, starb dort aber zwei Tage später im Beisein des zu Tode bekümmerten Bruders.
Von insgesamt 873 Bildern van Goghs sprechen keineswegs gesicherte Quellen, von Gemälden, Zeichnungen, Vorstufen und Skizzen. Unter den letzten Gemälden ist eines, das in einem Getreidefeld entstanden oder wenigstens entworfen worden sein muss. Ob es sich dabei um das Feld handelt, in dem er versuchte, seinem Leben ein Ende zu setzen, lässt sich nicht sagen. „In Wirklichkeit strebe ich danach, grauer zu malen“, hatte er in Saint-Rémy geschrieben, als seine Malerei den Höhepunkt einer Farbdramatik erreichte, die alles in eine kreisende, flammende Mitleidenschaft zieht, und man ihn mied als den „Verrückten mit den roten Haaren“, „rot wie eine Karotte“. Den Bildern aus der Zeit in Auvers haftet eine ganz andere Unruhe an. Sie wirken zurückgenommen, gedämpft, wie in Sommern mit allzu großer Hitze ist das Flammende einem Flimmern gewichen, und diese glastartige Patina ist es, was allen letzten Gemälden van Goghs einen Zug von Wehmut, trotziger Schönheit und vorweggenommenem Abschied verleiht.
Sie sind nicht grau, nur tatsächlich grauer. Sie zeugen von Lebendigkeit und Liebe, und doch liegt über ihnen ein beständiger, nicht zu vertreibender grauer Hauch. Am deutlichsten sieht man ihn auf dem Bild „Der Regen“, das von einer so seltsamen Stille durchzogen ist, von einer so unfassbaren Erstarrung des Augenblicks, dass es zumindest denkbar erscheint, auf der Leinwand das Getreidefeld festgehalten zu sehen, in das van Gogh wenige Tage nach Malen des Bildes zurückkehrte, um sich selbst zu töten.
„Der Regen“ zeigt den Ausblick auf den in einer weiten Talsenke liegenden, von sommerlich gelben Getreidefeldern und schlanken grünblauen Pappeln umgebenen Ort. Auvers mit seiner Kirche, seinen Häusern und Gärten zieht sich blau, grün, türkis in der Mitte vom einen zum anderen Bildrand. Das Dorf wirkt wie ein Strom, an dessen Ufern die Pappeln und eine Handvoll hellblauer Häuser stehen, ein Fluss, der über die Ufer getreten ist und sich lautlos durch die Ebene wälzt. Die wirkliche Oise ist in all dem Blau nicht zu sehen, ebenso wenig ein Dorfbewohner, ein Bauer oder Spaziergänger. Da ist rein niemand. Felder liegen links und rechts. Gelb, orange, hellgrün, durchzogen von dunkleren Tüpfeln und Schlieren in Blau und Grün, senkt sich die Flur zu der Siedlung hinab und wird dabei durchschnitten vom hellen Streifen eines Getreidefelds, das so gerade wie eine Straße auf drei Häuser im Schatten der Pappelreihe zuläuft.
Van Gogh hat diese Landschaftsstudie durch zwei simple Elemente zugleich zergliedert und von innen heraus gesprengt. Vertikal zerschneiden etwa fünfzig graublaue Linien das Bild. Sie stellen die Fäden des Regens dar, der auf Felder, Bäume und Dorf prasselt. Das Auge empfindet den gitterartigen Vorhang auf zweierlei Weise als irritierend. Das Rauschen des Regens nämlich ist so spürbar, wie es erstarrt ist. Zugleich aber fordert die Segmentierung durch Linien den Betrachter auf, jeden Abschnitt als eigenes Bild und alle Bilder in einer Abfolge begriffen zu sehen, Hügel, Dächer, Kirchturm, Baumreihen, alles und allem voran das Auge gerät in Bewegung, in eine filmstreifenartige Bewegung an einem verregneten Julitag des Jahres 1890.
In der Bildmitte sind schwarze Flecken. Dort flattern Krähen. Sie fliegen durch den Regen über den hellen straßengeraden Streifen Getreide, einige weiter voraus segeln schon hinab ins Dorf. Die Vögel sind das aufgescheuchte ruhelose Zentrum, die zerrissene Seele des Bildes. Dessen einzig freie Geschöpfe sucht das Auge immer wieder. Es fliegt mit ihnen durch den Regen, versucht auszumachen, wie viele es sind. Deutlich erkennen lassen sich fünf. Blickt man aber lange genug auf den dunklen Pulk in der Bildmitte und zählt alle schwarzen Flecken, kommt man auf zwölf.
Auf einem zerplatzten Ziffernblatt, gesprengt im Moment des Schusses, steht jede Krähe für eine Stunde: So verfliegt die Zeit.

Erschienen in: BlickWechsel. Gaismair-Jahrbuch 2013, Innsbruck 2012
Mirko Bonné © 2008