Dunkle Deutung des Vogelflugs

Küstenlinie, Hügelkette, Stadtrand, Park – Vögel im Flug, heißt es, lesen das Land, wie ich ein Gesicht lese. Bin ich in der Lage, Gesichter zu lesen, kann ich überhaupt lesen? Goldschopfpinguine überwinden tauchend binnen Wochen tausende Kilometer. Wer je einen sah, im offenen Meer, der weiß: Ein Goldschopfpinguin fliegt unter Wasser. Auf dem Weg in die Antarktis folgten dem Schiff tagelang zwei Wanderalbatrosse, die Schwingen reglos in der Thermik. Was da über Turmsegler sagen, die im Flug schlafen. Träumen sie, und lesen dabei das Land? Der Turmsegler, schreibt René Char, lasse den Donner verdorren. Allzu oft fliegen die Augen nur so über eine Seite.
Als wären sie meine Auguren. Im alten Rom kam dem Auspex zu, aus Geschrei, Gesang und Flug der Vögel das Geschick der Menschen zu lesen, „auis“, Vogel, und „spectare“, schauen, setzte man zum Vogelschauer zusammen, der Augurien abhielt, Auspizien las: Die Deutung des Vogelflugs als Kunde der Götter war seinen Augen und Ohren überlassen. Die Vögel dürfte das so wenig gekümmert haben, wie ein Schwarm Fregattvögel sich darum schert, ob weiter oben ein Düsenjet vorbeijagt. Gerade in ihrer rätselhaften Indifferenz aber, einer vermeintlichen Gleichmut, die als Zeichensystem lesbar scheint, liegen Kraft, Schönheit und, wenn man so will, Magie der Vögel. „Schlachthausangst / befällt die Rinder. / Doch die Kranichzüge / rudern siegreich durch ein schwaches Blau“, schreibt Johannes Kühn. Weder Pferde, Hunde, Schlangen noch Bienen, Frösche oder Katzen nehmen eine ähnlich emblematische Rolle in den Gedichten ein, der einzigen Form schriftlicher und zugleich mündlicher Überlieferung, die ungebunden, sinnlich, zweckfrei und sinnstiftend ist wie Flug und Gesang der Vögel. „Rät uns niemand Besseres? Auf denn! / Die Vögel fliegen günstig“ – wie bei Horaz schwirren sie bis heute durch die Lyrik und deren Thermik der Zeichen und Klänge, fast so, als stünden Vögel und Gedichte im Austausch. Einigen will ich hier nachspüren, auch ein paar eigenen. Ich habe von „Schwalben / in halben Kutten“ geschrieben, „in den Gärten der unsichtbaren Abtei“, von Staren, „Funken / die aus dem Gras sprühn“, Hähern, Weihen, Reihern – warum? Noch nach sechs Jahren staune ich, dass in meinem Band „Hibiskus Code“ durch zwei zufällig aufeinander folgende Gedichte ein Uhu fliegt. Ich blättere um, und der Uhu folgt den Augen aus dem einen hinüber ins nächste Gedicht.

 

1

Johannes Bobrowski sagte von Klopstock, er sei sein Zuchtmeister – wozu auch Vögel beigetragen haben mögen, doch dazu später. Mein jung an der Schwindsucht krepierter Lehrmeister wurde John Keats, als ich seine Dichtungen übersetzte. Die von ihm am Atem erprobte Wandlung der Sonettformen zur frei schwingenden Strophe für größere Reimgefüge prägt meine ersten Gedichtbände „Langenus“ (1994) und „Gelenkiges Geschöpf“ (1996). Keats hinterließ, als er 1821 mit 25 Jahren starb, zwei Gedichte, mit denen er die Überlieferung des Auguriums aufgreift. An J. H. Reynolds schrieb er im Februar 1818: „Ich habe noch kein Buch angesehen. Der Morgen sagte: ‚Gut so.’ Ich dachte an nichts als den Morgen, und die Drossel sagte: ‚Gut so!’“ In dem Brief folgt Keats’ einziges reimloses Sonett – erstaunlich, ist es doch aus Sicht jener Singdrossel geschrieben; taktfest, klar und jauchzend klingt ihr Schlag durch die letzten Zeilen:

O plag dich nicht nach Wissen – ich hab keins,
Doch mit der Wärme kommt mein Lied von selbst.
O plag dich nicht nach Wissen – ich hab keins,
Und doch lauscht mir der Abend. Wen sein Denken
An Trägheit traurig stimmt, der kann nicht träg sein,
Und wach ist jener, der sich schlafend wähnt.

1819 schrieb Keats die „Ode to a Nightingale“, mit acht Strophen zu je zehn Zeilen die längste seiner sechs Oden. Sie nimmt die reziproke Perspektive zum Sonett der Singdrossel ein, laut seinem Freund Charles Brown entwarf Keats das Gedicht binnen dreier Stunden, als er in Hampstead im Garten unter einem Pflaumenbaum saß und dem betörenden Gesang einer Nachtigall lauschte. Die Ode spricht den Singvogel unmittelbar an, im Gegenzug klingt dessen vielfältiger, bis zu 24 Strophen umfassender Gesang aus jedem ihrer Verse:

Sich auflösen, verschwinden, und am Schluss
Vergessen, was im Laubwerk dich nie stört,
Die Qual, das Fieber und den Überdruss
Hier, wo ein jeder jeden stöhnen hört;
Wo letztes graues Haar vom Schlagfluss bebt,
Wo Jugend bleich und schemen-dürr verfällt;
Wo denken heißt, dass man vor Gram und Sorgen
Bleierne Lider hebt;
Wo Schönheit ihren Augenglanz nicht hält
Und neue Liebe dies nur schmerzt bis morgen.

„Tender is the night“ – F. Scott Fitzgerald nannte seinen Roman nach dem Vers aus Keats’ Ode, der ihren Wendepunkt markiert. Mit den unsichtbaren Flügeln der Poesie, „auch wenn das Hirn sich wirr und schleppend regt“, fliegt das lyrische Ich der Nachtigall nach. Die „Ode to a Nightingale“ gestaltet die Vorstellung von einer Zeit, Raum, jede Trennung überwindenden Kraft der Sprache der Musik:

Wie ich dich heute Nacht, so hörten dich
In alten Tagen Kaiser schon und Knecht:
Vielleicht das gleiche Lied, das unverhofft
Ruth durch ihr Herz fuhr, als sie, ohne Trost,
Vor Heimweh, in dem fremden Kornfeld stand;
Das gleiche, das so oft
Magie in Zauberfenster trug, umtost
Vom Sturmmeer, im verlornen Märchenland.

 

2

Mit polterndem Flügelschlag steht die Gans auf im Wasser
Das Gedächtnis schwärmt zusammen, ordnet sich
Noch ein Kind und liest einen Band Keats

So beginnt „Pulk“ aus „Die Republik der Silberfische“ (2008), ein Gedicht, mit dem ich Permutationen im Gedächtnis zu verdeutlichen versuche; den zyklischen Aufbau eines altindonesischen Pantums variierend, beginnt seine zweite Strophe:

Das Gedächtnis schwärmt zusammen, ordnet sich
Eine Graugans – Luft – eine Graugans – Luft

Und die dritte:

Eine Graugans – Luft – eine Graugans – Luft
Jedes Gewitter löscht alle Bilder aller Gewitter

„Pulk“ versucht, eine Jugendlektüre lesbar, die frühere, freiere Betrachtung erlebbar zu halten. Es schließt mit der fünften Strophe so:

Ein Junge bleibt am Fußballplatz sitzen
Noch ein Kind und liest einen Band Keats
Stütz dich mit den Händen ab auf meiner Brust
Mit polterndem Flügelschlag steht die Gans auf im Wasser

Von Gedichten, die den Vogelflug zu deuten versuchen, ist das vielleicht schönste, das ich kenne, Walt Whitmans „To the Man-of-War-Bird“. Eine Vorstufe, der das „To“ und damit der an Keats’ Ode erinnernde Charakter der Anrufung fehlt, „The Man-of-War-Bird“, notierte Whitman um 1870 ohne Zeilenbrüche, und wie um sich seines Gegenstands zu versichern, klebte er unten auf den Zettel einen Zeitungsausriss: „The Frigate Bird“. Die Notiz fliegt auf die drei Wörter zu: „Schrecklich Tag & Nacht, Hurrikan, der die See aufpeitschte, Schiffe zerdrückte & an Land Trümmer und Zerstörung verstreute – Dann süße Stille den folgenden Morgen, & darin der Fregattvogel“.
Die hymnischen drei Strophen, die Whitman daraus entwickelt, widmen sich wie Keats’ Ode 50 Jahre zuvor empathischer, im Flug gespiegelter Wahrnehmung. In Rio de Janeiro beobachtete ich Fregattvögel über den Strandburgen von Ipanema und den sich die Hügel hinaufziehenden Favelas: Schwarz und stumm, mit mächtigen Zackenschwingen, zogen sie ihre Kreise, der lange Schwanz gespaltene Schleppe, Gabel, Letter. Whitman bildet ihre Erscheinung vollkommen ab, das gelassene Segeln und Gleiten, das sich an keinem Urubu, keinem der Krähengeier, die sich in ihre Schwärme reihen, stört. Durch fließende Interpunktion, Parenthese, Stopp, Volte, Zusammenzurren von Verben und Ausschwingenlassen der Verse gleicht das Gedicht selbst einem Fregattvogel. Auch Jürgen Brôcans Neuübertragung, die Atemrhythmen dem Versfuß vorzieht, endet so verblüffend wie beglückend mit dem Verschmelzen von Vogel und Vorstellung:

Geboren, dich am Sturm zu messen, (du bist ganz Flügel,)
Himmel und Erde, Meer und Orkan zu meistern,
Du Schiff der Luft, das nie die Segel streicht,
Tage, ja Wochen unermüdet weiter durch Räume und Sphären wirbelt,
Am Abend blickst du auf Senegal, am Morgen auf Amerika,
Du tollst zwischen Gewitterblitz und Donnerwolken;
Hättest du dort, in deinem Erleben, meine Seele,
Welche Freuden! welche Freuden wären dein!

 

3

Johannes Schlafs Whitman-Übertragungen erschienen 1907, im Geburtsjahr meines Großvaters, und machten den Amerikaner zum Vorbild auch der deutschsprachigen Expressionisten-Avantgarde. Dass sein Name in Untersuchungen von Georg Trakls Werk fehlt, verwundert, wo doch Franz Werfel, bekennender Whitmanianer, im Leipziger Kurt Wolff Verlag Trakls Lektor war. Die „Elis“-Gedichte, der „Helian“, die nachgelassenen Veröffentlichungen im „Brenner“ 1914/15 sind ohne den Einfluss von Schlafs Whitman auf Trakls Ton schwer vorstellbar. „Dich sing ich wilde Zerklüftung“ heißt es zu Beginn von „Die Nacht“ und in „Der Schlaf“: „Aufflattern weiße Vögel am Nachtsaum“.
Sonst hat nur Hölderlin so berückend von ihnen geschrieben. In Trakls Gedichten und seiner lyrischen Prosa sind sie lebendig als singende Begleiter, fliegende Spiegel. Undeutbar wie seine Engel künden Trakls Vögel von nichts. Identisch mit sich verlierendem Einklang und um sich greifender Zerrüttung, sind sie Bewohner eines Risses, der durch die Welt läuft und von dem weder Keats noch Whitman eine Vorstellung haben konnten: „Elis, wenn die Amsel im schwarzen Wald ruft, / Dieses ist dein Untergang“ – ruft der Vogel den zweiten Teil des Verses, oder kündet allein das Rufen zu hören vom Untergang? Was weiß die Amsel? „Ein kleiner Vogel singt im Tamarindenbaum“ heißt es dann wieder in „Verklärung“, ein Vers, der wie der Vogel in dem tropischen Baum singt. „Voll Harmonien ist der Flug der Vögel“ – klangvolles Maß liegt nicht nur in ihren Gesängen, auch den Formationen, Schwüngen, dem Sinken und Steigen.
Ich las Trakl erstmals 1984, in einem Buch, das eine Frau neben mir im Bus auf dem Schoß hielt. Das Gedicht, das mich elektrisierte und von dem ich tagelang träumte, ist noch heute mein liebstes; in Trakls Werk nimmt es eine ähnliche Stellung ein wie „Hälfte des Lebens“ in den Dichtungen Hölderlins. Es ist die fünfte Fassung von „Untergang“:

Über den weißen Weiher
Sind die wilden Vögel fortgezogen.
Am Abend weht von unseren Sternen ein eisiger Wind.

Über unsere Gräber
Beugt sich die zerbrochene Stirne der Nacht.
Unter Eichen schaukeln wir auf einem silbernen Kahn.

Immer klingen die weißen Mauern der Stadt.
Unter Dornenbogen
O mein Bruder klimmen wir blinde Zeiger gen Mitternacht.

Wie die Zeilen dem langsamen Gefrieren Regung, Wehen, Schaukeln, Klimmen entgegensetzen; wie man die in die Wärme davonfliegenden Vögel in der leise sirrenden Alliteration hört – das ergreift mich. Und mich erschüttert der Schluss, sobald mir von neuem klar wird, dass nicht von „erklimmen“ die Rede ist: Keiner klettert da auf Zeigern empor; auf der Dornenuhr bin ich selber Zeiger. Unfähig zu erkennen, worauf zu weisen wäre, steig ich ins Dunkel, und tröstlich ist einzig, dabei nicht allein zu sein.
So oft ich versucht habe, der Lektüre von „Sebastian im Traum“ in eigenen Gedichten Rechnung zu tragen, so oft war nur klägliches Getrakl das Ergebnis – mit einer Ausnahme. Sogar ein Vogel spielt darin eine Rolle: Verkannt als weiße Hand, jagt eine Möwe durch das Gedicht. Im August 1913 besuchte Trakl mit Karl Kraus und Adolf Loos, den er „Loos-Luzifer“ nannte, Venedig, seine einzige Auslandsreise. Verfolgungsangst, Halluzination und heraufdämmerndem Wahn widmet sich in „Hibiskus Code“ (2003) mein Gedicht „Elis in Venedig“:

1913 stehen Elis und ein Lancia
am Meer, Elis im einteiligen Badeanzug,
schwarz, und im Kopf Kokain. Immer ein Bild:
Zwei Rappen schwimmen und ertrinken.
Er starrt eine Zeit abwesend
auf das blausilberne Automobil,
der Lancia umlagert von Buben
in der Sonne der Lidostraße.
Bis Loos-Luzifer ruft: „Chianti!“
und eine Hand Sand wirft.
Lässig geht er mit, sie fahren.
Sein Zimmer starrt von Insekten.
Er rennt sofort wieder hinaus,
durchs Gras über dem Steinstrand,
und rennt zwei Badegäste um
im Glauben, er habe ein Messer.
Im nächsten Augenblick,
eine einzelne weiße Hand
flöge ihm hinterher, die
Steilküste lang.

 

4

„Sag doch, wie leben wir hier?“, fragt Johannes Bobrowski in „Das Käuzchen“. „Der Weg ist nicht zuende. Und die Wiese fängt nicht an. Das ist nicht ausdrückbar. Und ist der Ort, wo wir leben.“
Anders als in Trakls Seelenkaleidoskopen verweigern sich Bobrowskis Vögel der Deutbarkeit nicht. Seine Poesie der Natur- und Geschichtsbefragung spricht Flüssen, Bäumen, Tieren, insbesondere den Vögeln Dauer zu: Wie Keats’ apriorische Nachtigall bleiben sie „immer zu benennen“. So stiften sie Wirklichkeit auch Flüchtigem, etwa in „Kalmus“:


Eine blaue Taube
hat die Flügel gebreitet
über den Wald.
Schön im zerbrochenen Eisen
der Farne
geht das Licht
mit dem Kopf eines Fasans.

Atem,
ich sende dich aus,
find dir ein Dach,
geh ein durch ein Fenster, im weißen
Spiegel erblick dich,
dreh dich lautlos,
ein grünes Schwert.

Zeugen Trakls Gedichte vom Zerbrechen an der Unwirklichkeit, hält Bobrowski an Wirklichkeit erst gewinnender Poesie und deren Überlieferung fest. „An Klopstock“ aus „Wetterzeichen“ (1966) führt aus, wie Natur, Lebendigkeit und Verantwortung ineinander greifen: „Wenn ich das Wirkliche nicht / wollte, dieses: ich sag / Strom und Wald, / ich hab in die Sinne aber / gebunden die Finsternis, / Stimme des eilenden Vogels, den Pfeilstoß / Licht um den Abhang // und die tönenden Wasser – / wie wollt ich / sagen deinen Namen, / wenn mich ein kleiner Ruhm / fände“. Aufgehoben die „Schattenfabel von den Verschuldungen / und der Sühnung“, traut Bobrowski „der Vergeßlichen Sprache“: Er habe ein ungebrochenes Vertrauen zur Wirksamkeit des Verses. Alles spreche gegen ein Aufgebenkönnen: Seine Litaneien müsse man noch in Prospekte hineinsagen, einfach sagen, nicht lauter als vorher. „tauch nach träumen / sonst wirft ein slogan dich um“, schreibt E. E. Cummings. Für Johannes Bobrowski, der in meinem Geburtsjahr 1965 starb, fängt das Gedicht da an, wo das Interessante aufhört: bei Unzeitgemäßem, so Zwecklosem wie Zeitlosem – ein Credo, das ich, gut 40 Jahre später, unterschreibe, gerade weil es paradox scheint, angesichts einbetonierter, verpesteter Flüsse, Massenabholzung, Waldsterben, Hühnerfabriken und Vogelgrippe festzuhalten an der „Beschwörungsformel“ eines Verses „von Federn, / von weißen Flügeln, / von einem Vogel Augenlos“.
Die Kraft der Poesie ist keine magische. Als sprachliche Musik des Alltags vermag sie lebendiges, wandelbares Bindegewebe zu sein. Der Vogelflug ist so gesehen nicht bloß Metapher oder Allegorie. In „Die Kraniche des Ibykus“, die das entlarvende Staunen zweier Totschläger erregen, deutet schon Schiller die Vögel als Boten einer uralten Technologie aus Gleichmut und Maß, widersprüchlich und widerständig, nachvollziehbar nur in einem freien Akt des Dennoch. Festgehalten hat das unwirsche Staunen darüber in vielen seiner Gedichte Jürgen Becker, so in „Autobahnring“ aus „Journal der Wiederholungen“ (1999):

Hochblickend, die Kette der Kraniche,
sie wechselt gerade die Keilspitze aus,
die Flugrichtung bleibt, die Geschwindigkeit
ändert sich nicht, einige schreien, dann
schreien andere, die Kette entfernt sich zwischen
den Städten, die still sind in der Luft.

Ähnlich verblüfft, wie Becker in einem einzigen Satz über neun Glieder hinweg fliegende Kraniche deutet – ihre Laute beim Ausscheren und Wiedereinfädeln, als seien die Stabreime Vögel im Geschwader, an einem Himmel voller Kommas –, so schreibt auch W. G. Sebald in seinem letzten Gedicht über einen Schwarm Spatzen im Abfertigungsterminal des Flughafens Amsterdam-Schiphol. Die Sperlinge von „In der Nacht auf“ (2001) „landen in / den grünen Palmen & / Ficusbäumen & blicken / indem sie die kleinen // Köpfe mit den glanz / schwarzen Augen ruck / artig wenden zwischen / den künstlichen Blättern // heraus ratschen auch / laut untereinander / als sei ihnen irgend / etwas nicht recht“ – flatterndes Leben in technologisierter Fremde.

 

5

In „Die Republik der Silberfische“ widme ich „Die Frage zurück“ dem Berliner Filmemacher Gerald Koll, ein Gedicht, das rückwärts laufende Zeitrafferaufnahmen von einer Bahnfahrt von Hamburg nach Berlin aneinander reiht. Die Stationen längs der Trasse sind dabei weniger Orte als vielmehr einzelne Vogelbeobachtungen: Die Vögel selbst sind die Sehenswürdigkeiten, etwa bei der Fahrt durch Wittenberge Schwalben, die in blinde Fenster leer stehender Plattenbauten hinein- und parallel zu den Gleisen auf der anderen Seite hinausstoben. „Genug geschrien, meine Schwestern! Nun ist es an mir, zu sprechen!“ – wie Franz von Assisi zu den Schwalben sagt, so bildet das Gedicht ein Gespräch mit dem Freund in Berlin ab, noch ehe es stattgefunden hat:

Die beste Antwort
auf alle Fragen,
frag zurück: Und du?
Ein Goldammergelände,
in Mitte, und Rohrdommeln,
Charlottenburgs Lummen.
Aber ein einbeiniger
Storch im Heufeld
kurz vor Berlin,
wittenbergesche
Plattenbauschwalben.
Gesehen, die duldsamen,
apfelgrünen Fasane
Ludwigslusts?
Und du?

„Duldsam“ – nicht „geduldig“. Als duldsam deute ich Großstadtamseln, die Handyklingeltöne imitieren, Spottdrosseln, die zur Verblüffung der Forschung bei Passanten Störer von Nichtstörern unterscheiden – so wie Elstern, obwohl sie keinen Neocortex besitzen, ihr Spiegelbild erkennen. Als ich nach 22-stündigem Flug über Island, Grönland, Kanada, den Mississippi, Florida und Texas in Mexiko landete, fiel mir in den Straßen von Guadalajara die Stille, die Reglosigkeit in den Parks auf. Nager in den Bäumen, in der Luft Libellen; vertrieben vom Smog der Viermillionenstadt, waren alle Vögel geflohen, wohin auch immer. In Jan Wagners Gedicht „Guerickes Sperling“, das dem Band von 2004 den Titel gibt, sehe ich Technologieeifer und Wissenschaftsgläubigkeit in ein bleibendes Bild gebannt: Guericke führt das von ihm entdeckte Vakuum vor, indem er aus einer Glaskugel, die auf einem Dreifuß ruht, die Luft abpumpt. Der Vogel darin erstickt, und während man im Raum umherblickt, auf „die unbeirrbarkeit der pendeluhr, / diopter, pedometer, astrolabium“, schließt das Gedicht: „‚dieser tote sperling’, flüstert einer, / ‚wird noch durch einen leeren himmel fliegen’“ – gerauntes Menetekel einer Atemlosigkeit, in der sich Liebe zum Leben, Sinn, Wert, Schönheit und Bedeutung erschöpfen, geopfert dem Fortschritt und damit der Zukunftsangst. Wagners Kritik wäre vor fast 400 Jahren, zu Guerickes und Gryphius’ Zeiten, kaum verstanden worden, so wenig, wie man die Magdeburger Vakuumdemonstration als viel eher durch ihre Abscheulichkeit visionär einzuschätzen in der Lage war. Heute, da jede Erscheinung und alle Äußerung Bestandteile eines globalen Laboratoriums mit umfassendem Analyseauftrag sind, verstehe ich den moribunden Sperling in der Kugel als Darstellung beobachteten, untersuchten und jedwedem Ergebnis ausgelieferten Lebens. So sehr sie sich seit Hölderlin und Keats gewandelt haben, scheint den Deutungen des Vogelflugs in Gedichten doch zu aller Zeit gemein, dass sie Darstellungen dessen sind, was „Herz“, „Seele“, „Gemüt“, „Hirn“ bewegt: „Drehend und drehend im sich weitenden Kreisel / Kann der Falke den Falkner nicht hören; / Alles zerfällt; die Mitte hält es nicht“ – für William Butler Yeats versinnbildlichte die abgerissene Verbindung ein „Chaos, losgelassen auf die Welt“. „Guerickes Sperling“ spiegelt durch strenge Anordnung Guerickes Experiment: 21 Blankverse werden selbst zur Apparatur, in der ein Vogel sitzt, „der wie eine weingeistflamme / zu flackern angefangen hat“. Einzig der vorletzte Vers gibt raunend einer Regung Raum und fällt eine Silbe lang aus dem Versfuß des Pentameters.

 

6

Stehen sie für Gedanken, Gesten, Korrespondenzen, Synapsen? Wie man den Flug der Vögel auch deuten mag – projiziert in den Spielraum des Gedichts, scheint er noch immer mögliche oder für möglich gehaltene Verbindungen aufzuzeigen, Wege und Schneisen des Anderen zum Eigenen: Etwas koppelt mich an dich. Falls je ein Gedicht eine Aufgabe hatte, so in meinen Augen die Kopplung, die E. E. Cummings so beschreibt: „ein finger drückt einen abzug / ein vogel fliegt in einen spiegel“. Und sind sie in jüngeren Gedichten auch selten geworden, finden sich wohl deshalb darin weiterhin Vögel, verwirrt und verwundert ihre unverändert zweckfreie Anwesenheit. Drei Beispiele, bevor sich auch dieses Augurium in lieblicher Bläue verliert.
Von der Fernsehübertragung eines Fußballspiels berichtet Hendrik Rosts „Kontraste“ aus „Aerobic und Gegenliebe“ (2001). Im Abspann ist nochmals ein Foul zu sehen, plötzlich aber eine Elster, die panisch das Weite sucht:

Für einen Moment abgelenkt,
folgte das Bild in Zeitlupe ihrem Flug,
während der Tumult

im Hintergrund unscharf wurde,

bis sich die Kamera abrupt
aus ihrem Sog löste und zurück
auf die fallenden Körper hielt.

Trotz der zwischen Vogel und Betrachter geschalteten Kamera, die den den unverstellten Blick ersetzt, bildet die Flucht der ins Bild gebannten Elster den Fokus der Wahrnehmung: Unterstützt von seiner dynamischen Strophentektonik, deutet das Gedicht das Geschehen, koppelt Körper, Kamera, Blick und Flucht aneinander. Der Vogel in gezoomter Zeitlupe wird zum missing link, ersetzt die Unmittelbarkeit und bringt sie einen Lidschlag lang zurück. Wie der Unbekannte hinter der Kamera geraten Zuschauer und Leser in den „Sog“ des fliehenden Vogels – ein irritierender Moment, an den ich mich zurückerinnere, weil „Kontraste“ ihn mit Leben erfüllt: Die durch den Tumult gespensternde Elster habe ich seinerzeit live miterlebt.
In „Manara“ aus Sylvia Geists „Vor dem Wetter“ (2009) schwebt wie in Jan Wagners Gedicht ein Sperling zwischen Leben und Tod, doch ist er mehr als bloß Demonstrationsobjekt. Im „gemalten Jenseits“ der Katakomben Alexandrias werden die Seelen der Toten als aus den Händen der Götter auffliegende Vögel dargestellt, die „kurz vorm Abflug bleiben, solange die Farbe hält“. In „Manara“, arabisch für Leuchtturm, trifft so ein Götterspatz auf einen lebenden Sperling. Vorbei an „Stufen, Stufen, das Fresko der Kletternden“ durchflattert der Vogel drei Strophen des Gedichts, um auch dem Betrachter und Leser vorm Hintergrund des Wandbildes eine paradoxe Ahnung von Seele zu verleihen:

Abgefeuert von der Feder eines Zufalls,

der ihm die Flügel an den Körper heftet,
als er die handschmale Schneise passiert,
so stürzt er in den Turm, und unsicher,

was tröstlicher wäre, irgendein Mut oder
die Einsicht, dass er nicht weiß, wo er ist und was
er hier tut, bewege ich mich, beweg ich mich nicht.

Auch in Arne Rautenbergs „die vogeluhr. sonnenaufgang 4.30. mitte mai“ aus „vermeeren“ (2007) erscheint ein Sperling mit paradoxer Bedeutung. Rautenberg reiht anhand der nach Helligkeitsgraden bestimmbaren Uhrzeitenfolge das Erwachen von zehn unterschiedlichen Singvögeln auf, fügt jedoch jedem Chronologieausschnitt eine Interpretation hinzu, sodass die zweite Hälfte des Gedichts so klingt:

3.40 (kohlmeise):
hinter dem sturm ist ein sturm.
3.50 (zilpzalp):
hinter dem stern ist ein stern.
4.00 (buchfink):
ich gehe durch meine stadt und es ist nicht meine stadt durch die ich gehe.
4.20 (haussperling):
ich denke mich und ich bin es nicht der mich denkt.
4.40 (star):
der winter der mir den schlaf bettet in den ich meinen schlaf bette.

Die Verse imitieren die Lieder der Vögel, zeigen umgekehrt aber auch die Anreicherung des erwachenden Bewusstseins durch klangliche Nuancierungen. So finden Gesang und Gedicht im berückenden Faktensingsang von Möglichkeiten und Grenzen einer Identität noch einmal zueinander.
Von „der Stimme so vieler Vögel“ schreibt Hölderlin im Fragment „In lieblicher Bläue“: „Ein heiteres Leben seh‘ ich in den Gestalten mich umblühen der Schöpfung, weil ich es nicht unbillig vergleiche den einsamen Tauben auf dem Kirchhof.“ Und er vergleicht: „Möcht‘ ich ein Komet seyn? Ich glaube. Denn sie haben Schnelligkeit der Vögel“. Was ich bin und sein möchte, ist Sache des Glaubens, und was seit Horaz die Vögel damit zu schaffen haben, bestimmt nicht minder. Wozu die alten Geschichten, die Zeichensuche am Himmel. Georg Trakl, dem ich glaube, rät mir, den Sinnen zu trauen:

Laß, wenn deine Stirne leise blutet
Uralte Legenden
Und dunkle Deutung des Vogelflugs.

 

Erschienen in: BELLA triste 24, Hildesheim 2009. Mirko Bonné © 2009