Der Hamburger Fotograf Arvid Gutschow
So vielfältig die norddeutschen Landschaften auch sind zwischen der Elbe bei Hamburg, der Wesergeest nördlich von Bremen und den friesischen Inseln bis hinauf nach Sylt, alle sind sie geprägt vom Meer. Übers flache Land bläst der Seewind und bringt die See gleich mit. Es gibt Jahre, in denen regnet es an dreihundert Tagen, bis es mit einem Mal wieder leuchtet, das namenlose Licht. Man sieht ihm an, wie nah das Meer ist und wie hoch der Himmel über Sylt und Neuwerk. Es ist das Seelicht, in dem die Nordsee noch immer die Küsten formt und bis tief ins Landesinnere das Leben prägt. Wo denn das Meer sei, fragt am Elbstrand nur ein Tourist, für den das Tor zur Welt an einer Küste liegen muss. Hamburg, das Tor, und Bremen, der Schlüssel, liegen nicht am Meer, nicht mal an der See. Die Elbe fließt durch Hamburg, das ist wörtlich zu nehmen, denn auf seinem Weg strömt der Fluss durch alles und jeden. Kein Wunder, dass in Draußen vor der Tür die dunkle Mutterfigur „die Elbe“ heißt. „Links Hamburg, rechts die Nordsee, vorn Finkenwerder und hinten bald Dänemark. Um uns Blankenese. Über uns der Himmel. Unter uns die Elbe. Und wir: Mitten drin!“, schrieb Wolfgang Borchert.
„Mittenmang“ sagt man in Hamburg und wähnt sich in einem Zwischenbereich, man fühlt sich zugehörig Land wie Meer, unablässigem Wind und immensem Licht. Im Jahr 1900, als Arvid Gutschow in Blankenese geboren wurde, wird die als wesenhaft empfundene Küstenlage Alltag, Sprache, Denken und Fühlen noch ungleich stärker geprägt haben, zumal wenn man am Elbufer aufwuchs. Ein „Hamburger Jung“, wie man in der Hansestadt sagt, war Gutschow streng genommen nicht. Erst seit 1938 gehört Altona und damit sein Vorort Blankenese zu Hamburg. Bis 1927 war er pinnebergische Landgemeinde, ehe die alte Villen- und Kapitänshäusersiedlung mit dem Groß-Altona-Gesetz an Hamburgs holsteinische Nachbarstadt fiel. Aus demselben Jahr datiert Arvid Gutschows erste größere Publikation. In einer Beilage des vielgelesenen „Hamburger Fremdenblatts“ erschien eine Bilderserie vom neu entstandenen Kontorhausviertel, die auch durch Aufnahmen von der Baustelle des Chilehauses für Aufsehen sorgte. Der Fotograf war 27 und seit kurzem als promovierter Jurist im Landherrenamt des Senats in der Verwaltung der hamburgischen Landgemeinden tätig. Dem jungen Beamten bot sich inmitten unwägbarer Verwerfungen Ende der zwanziger Jahre unvermittelt die Möglichkeit zu einer künstlerischen Laufbahn.
Auf der Suche nach Motiven für einen Roman, der eine Blankeneser Erfinderfamilie beschreibt, stieß ich vor fünfzehn Jahren auch auf Arvid Gutschows Aufnahmen von Werften und Schiffen im Hamburger Hafen. Frappierend das Spiel mit Strukturen, der dennoch warme Blick der Schwarzweißfotos. Bug, Rumpf, Heck. Form, Fläche, Schatten. Masten, Kräne, Brücken. Im Halbdunkel eines Trockendocks scheint eine Schiffsschraube Licht davonzuwirbeln.
Schon in seinen frühesten, Industrietechnik und Architektur gewidmeten Fotografien zeigt Gutschow stets mehr als das abgelichtete Objekt. So selten Menschen darauf erscheinen, so subjektiv und damit zweifelnd, verwundbar und verwundert, porträtieren die Aufnahmen den Blick eines Einzelnen. 1928 in Der Querschnitt veröffentlicht, zeigt etwa das Foto „Schornsteine“ drei der vier über hundert Meter hohen Schlote des inzwischen abgetragenen Heizkraftwerks Hamburg-Tiefstack. Der zwischen den Essen sichtbare Himmelsausschnitt und die auf den grauschwarz in die Höhe strebenden Backsteintürmen liegende Schattenmaserung erinnern an suprematistische Keilkompositionen. Doch wie diese gemahnt auch Gutschows Foto an etwas Grundsätzlicheres, Menschen Verbindendes. Ich erinnere mich gut an mein Schaudern beim Anblick der irritierend riesigen roten Schlote, wenn ich als Junge mit meinen Eltern aus den Vierlanden kam und wir durch Tiefstack fuhren.
Arvid Gutschow entschloss sich, seine Beamtenlaufbahn fortzusetzen. Wie sein Vater fotografierte er mit dessen Stegemann-Studienkamera, einem Glasplattenapparat mit Holzgehäuse, nur nebenbei, auf Reisen, am Wochenende, als Hobby. Beruflich interessierten ihn mehr und mehr agrartechnische Neuerungen, besonders Kompostierungsmethoden. Auf dem Gebiet der „Landverwertung“, einer naturnahen, nachhaltig betriebenen Landwirtschaft, leistete Gutschow in den Dreißigern Pionierarbeit und war schon bald eine lokale Koryphäe, auch weil er die herrschenden Machtstrukturen zu nutzen wusste. Zum erstmöglichen Zeitpunkt nach der 1933 verhängten Aufnahmesperre trat er 1937 in die NSDAP ein. Sieben Jahre später war er vierundvierzigjährig Senatsdirektor in Hamburg.
Vor dem Hintergrund dieser Verwaltungskarriere erstaunt umso mehr die bildnerische Meisterschaft, kompositorische Kühnheit und schlichte Eleganz seines einzigen Fotobuchs. 1930 erschien im Hamburger Verlagshaus der jüdischen Familie Enoch See Sand Sonne, ein minimalistisch zurückgenommen gestalteter Band, der, eingeleitet von dem „Lili Marleen“-Dichter Hans Leip, „75 photographische Aufnahmen von Meer, Watt, Strand, Dünen und Küstenpflanzen“ versammelt.
Gutschow schoss die Bilder während seiner Flitterwochen und anderer Aufenthalte 1928 und ’29 auf Sylt. Fotos von sommerlichen Dünen und deren durch Meer und Wind geprägter Vegetation wechseln mit Aufnahmen von winterlichen Prielen, Sandwegen und Küsten. Bild für Bild entsteht so vorm Auge des Betrachters einerseits die Landschaft der Insel, über die der Fotograf mit Kamera und Stativ wanderte und deren charakteristische Spuren, Muster, Spiegelungen und Schatten er festhielt. Ebenso entwickelt sich aber auch ein facettenreiches, so bewegendes wie bewegtes Bild quer durch die Zeit. „Ackerfurchen, vom Seewind mit Reif belegt“, „Weg im Inselgeestland“, „Kliffkante“, „Schaum einer auslaufenden Welle“ oder „Kanneluren im Watt mit Spuren von Möwenfüßen“ heißen einzelne Fotografien. Kein fertiges Panorama der Sylter Insellandschaft wird geliefert. See Sand Sonne zeigt, wie eine vorläufige, flüchtige Topografie entsteht: Jeder Betrachter fügt Landschaft anders zusammen und setzt sie fort. Die sichtbare geht über in unsichtbare Landschaften, die noch auf ihn warten.
Als leitender Beamter der Landbezirksverwaltung war Gutschow zu Beginn der vierziger Jahre für die zu Hamburg-Bergedorf gehörenden Vierlande zuständig. In dieser Funktion, ebenso aber als Fotograf, leistete er NS-Verbrechen zumindest Vorschub, als er den durch seinen Bruder Konstanty vermittelten Auftrag des Hamburger „Reichsstatthalters“ Kaufmann annahm, die von Hitler geplante Elbuferbebauung zwischen Altona und Wedel fotografisch zu begleiten. Denn gebaut wurde mit Backsteinen des SS-Unternehmens „Deutsche Erd- und Steinwerke GmbH“ aus der Ziegelei des Konzentrationslagers Neuengamme in den Vierlanden. Im Mai 1940 unterzeichnete Gutschow für den Senat einen Vertrag, der den Einsatz von KZ-Häftlingen für den Ausbau des Klinkerwerks, das Anlegen großflächiger Tongruben sowie Erdarbeiten zur Schiffbarmachung des Elbzuflusses Dove Elbe regelte. Er war oft in den Vierlanden. Sein mit fünf Detailfotos versehener Aufsatz „Die Vierländer Kirchen“ in der Zeitschrift Die Lesestunde rühmte schon im Juli 1933 „gesunde Natürlichkeit und das tüchtige Handwerk“ der Leute aus Altengamme, Neuengamme, Curslack und Kirchwerder. Das Titelblatt zeigt den hölzernen Glockenturm der Curslacker Johanniskirche. Geschickt sei das Ziffernblatt der Uhr in eine obere Ecke gerückt, schrieb Gutschow. So habe es Halt und schwimme auf der Wandfläche nicht fort. Meine Eltern haben in dieser Kirche geheiratet, ich wurde dort konfirmiert, und bis heute frage ich mich, was mir das in die Ecke gerückte Ziffernblatt sagen will.
Von Arvid Gutschows Fotografien berührt mich besonders eine Aufnahme, die 1953 in Seebergen bei Bremen entstand, wo er sich nach Kriegsende und Ausscheiden aus der Hamburger Senatsverwaltung auf einem eigenen, schon bald ökologisch bewirtschafteten Hof niederließ. Nach fast zehnjähriger Unterbrechung fotografierte er wieder, mit einer kleinen Leica die Landschaften der Wesergeest und Wümmewiesen, den Hafen von Bremen, aber auch Objekte aus serieller Industriefertigung, die er „Formen der Technik“ nannte. So gestochen scharf die immergleichen Fahrradsättel, Zahnräder oder Schraubenmuttern abgelichtet sind, so warm zeigen sie das Spiel des Lichts, die Pracht des vielfältigen Blicks und führen damit auch Muster, Wellen, Maserungen und Schatten von See Sand Sonne fort.
Das Seebergener Foto von 1953 hat keinen Titel. Es zeigt lediglich von unten aufgenommene Baumwipfel, sommerliche Eschen, hier hellere, dort dunklere, von Lichtreflexen überspielte Blätter. Zwei Drittel des Bildes geben den Blick in den Himmel frei, über den Cirrocumuluswolken fluten. Je länger ich das Foto betrachte, umso mehr scheint es mir zu sagen. Ist ein Code darin verborgen? Erkenne ich etwas wieder? Oder ist es einfach nur atemberaubend, einen Augenblick im unablässigen Lesen der Welt, das unsere Existenz ausmacht, so zeichenhaft, so schön festgehalten zu sehen? „Am Lichtsinn / errätst du die Seele“, dichtete Paul Celan 1957, im selben Jahr, als Arvid Gutschow mit der Fotografie abschloss, indem er auf dem „Gärtnerhof“ in Seebergen Glasplatten und Negative unauffindbar vergrub – eine Geste wie ein rätselhaft dunkles und zugleich helles Bild.
Rede zur Vorstellung des Katalogs „Arvid Gutschow. Bedeutend und fast vergessen“ anlässlich einer Retrospektive von Gutschows fotografischem Werk in den Räumen der Alfred Ehrhardt Stiftung, Berlin
© Mirko Bonné 2013