Das Gras wächst weiter

Eine Frau geht vorbei, mit der ich um ein Haar das Leben geteilt hätte.

Gib es zu, du kommst dir immer öfter wie die Fehlbesetzung in deinem eigenen Leben vor.

Und plötzlich liest man wieder Max Frisch.

Im Weinberg, betrunken vom Rotgold des 2. Oktober. Ich werfe alle Ansprüche an Leben und Lieben auf einen Laubhaufen und stecke ihn noch am Vormittag an. Schon Herbst! Die Schlösser hocken an den Bergen wie Krähen im Apfelbaum. Und die Flammen züngeln zum Himmel hinauf, keine zwanzig Sekunden dauert der Zauber. (Edenkoben, 2.10.)

Entlang der Autobahn nach Winterthur trabt ein einzelner Hirsch über ein Feld im Regen – sein entsetzter Blick brennt sich mir ein, seine Verlorenheit unter uns Außerirdischen.

Das Gras wächst weiter. Unbeachtet lässt es Krieg und alles Leid. Es wächst, wird wieder grün, kennt keine Welt, die grad zerfällt, das Gras kennt nur das Gras.

Denk auch und immer wieder zurück an das Pferd auf der Weide am Ufer der Hetlinger Heide, allein da unter dem riesenhaften Strommast, der die Kabel oberhalb der ein- und aus fahrenden Schiffe über den Fluss führt. Tief in Gedanken versunken, so schien es, fast wie verschwunden stand es im grauen Gras, regungslos.

Und auch du selbst so ein schwarzes Loch inmitten der Ereignisse deines Lebens, die du ansaugst, verbrennst und vernichtest. (Vor Grenoble, 3.10.21)