Das Wacholdergewehr

„Das Herz ist der Schlüssel der Welt und des Lebens. Man lebt in diesem hülflosen Zustande, um zu lieben – und anderen verpflichtet zu sein. Durch Unvollkommenheit wird man der Einwirkung anderer fähig – und diese fremde Einwirkung ist der Zweck. In Krankheiten sollen und können uns nur andere helfen. So ist Christus, von diesem Gesichtspunkt aus, allerdings der Schlüssel der Welt.“ Novalis

„Ich warte immer noch auf Ihre Antwort“ heißt eine Spam-Mail, die ich seit Jahren immer wieder erhalte, obwohl (oder weil?) ich nie darauf reagiert habe. Stets von Neuem denke ich nur: Da kannst du (wenn es dich überhaupt gibt) warten bis in 120 Jahren.

„So ist das nun mal im Alter“, sagt in der U-Bahn ein kleines Kind zu seinem Großvater, der es darauf nur stumm anblickt.

Über hundert, wenn nicht 130 Jahre lang lehnte ein Winchester-Repetiergewehr an einem Wacholderbaum im Great Basin-Nationalpark von Nevada. Wacholder, lese ich, wächst langsam. Beinahe reglos aus einer in eine andere Zeit. Und der Winkel in dem Park in Nevada muss sehr einsam gelegen sein. Dennoch war die Welt auch dort dieselbe. Die gesamten - Leben meines Großvaters und seiner Mutter begannen und verstrichen, während das Gewehr bewegungslos an dem Baum lehnte – für unser Auge bewegungslos. Denn langsam ist es in den Boden eingesunken, über ein Jahrhundert hinweg etwa um eine Handbreit. Und es hat sich in sich auch bewegt. Hart ist das Holz eines Gewehrschafts, oft ist er aus Nussholz. Der Nussholzschaft der Wacholderwinchester ist nur noch mürbe, er ist halb zerfallen und zerfressen.
Und wer war er, der das Gewehr an den Baum lehnte seinerzeit? Wieso hat er die Büchse stehen lassen? Da ist vieles möglich, und sicher nur, dass hier ein Gewehr erzählt … schon fühle ich mich gerettet. Es wird noch erzählt. Wir erzählen einander noch! Und die Dinge uns. Von sich. Und wir ihnen? Ja.