Der Hahn und das Pferd

Im Kreuzgang des Rigaer Doms stand ich vor dem Gerippe des alten Wetterhahns. Es ist ganz aus verwittertem Kupfer, beschichtet mit Goldlack nur noch dort, wo die Krähen ihn übrigließen. Groß wie ein Fohlen, mit stumpfen und doch wie lebendigen Augen und einem Dutzend Schwanzfedern, die dreihundert Jahre lang im Wind sangen. Herder hörte sie. Und Wagner hörte sie, während er die ersten Noten von „Rienzi“ schrieb. Ich sah eine vergilbte Schwarzweißfotografie vom Turm des Doms, auf seiner Spitze, vor dem milchigweißen Himmel an einem Dezembertag 1923, den Wetterhahn.

Das Schicksalspferd, an das die alten Letten glaubten, ein schöner Schimmel: Trat er auf den über den Weg gelegten Ast und zerbrach ihn, so war ein schweres Jahr zu erwarten. Die Kinder am Wegrand feuerten das Pferd an, die Hufe zu heben, höher, höher, die Augen aufzumachen, schau, Pferd, schau, aber wussten, nur der Schimmel entschied. Den Zufall gab es nicht. Alles erzählte, wusste, war Zeichen, gab Antwort.