Der Lärm der Zeit und des Gemüts

Das lauteste Konzert meines Lebens: Mogwai in der Großen Freiheit. Schon nach der ersten Minute, die Schlagzeuger, Keyboarder und vier Gitarristen auf der Bühne standen, verstopfte ich mir die Ohren mit Kautschuk. Die Schallwellen des wundervollen Lärms drangen schwermütig durch Mantel, Pullover und Hemd, und die Umhängetasche bebte mir am Leib, als hätte ich darin ein Nagetier, das um sein Leben zitterte. Reglos standen die sechs Schotten im Lichtgeflacker, versuchten ihren Instrumenten Menschliches abzutrotzen und ließen doch nur möglichst melodisch auf meiner Seele einen Jet landen, soul runway. Hardcore will never die, but you will. Von zwanzig Songs, die sie spielten, zwei Gesang, der Rest Landschaft, offene See, Weltraum, Klangbitternis, Lärm der Zeit und des Gemüts. Seit Monaten war ich nicht so ruhig. Als Trakl einmal las, vor hundert Jahren in Innsbruck, muss es etwa so gewesen sein. Mein lieber Freund sagt, wie es ist: Den Rest denkst du dir und spürst du. (St. Pauli, 26.3.)

Eine so erregende wie desillusionierende Beobachtung über das Gedicht äußert überraschend Christoph Hein in seinem Roman „In seiner frühen Kindheit ein Garten“ über den ungeklärten Tod des fiktiven Untergrundaktivisten Oliver Zurek. Nach dessen Erschießung (oder Selbsttötung) in dem fiktiven Ort Kleinen (–> Bad Kleinen –> Wolfgang Grams) studiert Zureks Vater, ein pensionierter Schuldirektor, die politische Lektüre seines Sohnes: „Seien wir realistisch, verlangen wir das Unmögliche, las er lächelnd. Und dann murmelte er halblaut den Satz: Man muss das Volk vor sich erschrecken lehren, um ihm Courage zu machen. / ,Es ist Lyrik, Rike‘, sagte er zu seiner Frau, als sie in das Zimmer kam, da sie seine Stimme gehört hatte, ,reine Lyrik. Oliver hat im Grunde Gedichtbände gelesen, die sich als wissenschaftliche Literatur getarnt haben. Es liest sich wunderbar. Erbaulich und schön wie die Korintherbriefe. Wundervolle Worte über eine prächtige zukünftige Welt. Und eigentlich ersetzen sie das, was sie einfordern, sie nehmen es vorweg. Wer sich diesen Worten hingibt, ist bereits im Stande der Glückseligkeit. Das sind keine Terroristen, es sind Träumer, nichts weiter. Natürlich, diese Autoren stürzen die Welt um, stellen alles vom Kopf auf die Füße, Expropriation der Expropriateure, die Ersten werden die Letzten sein, die geschundene Kreatur wird gekrönt werden, die Tränen der Welt getrocknet. Das ist die Bergpredigt, nichts anderes, Rike, samt einer Wollmaske mit Augenschlitzen. Freilich, einige von ihnen haben nach einer Kalaschnikov gegriffen, das sind die, die nichts davon verstanden haben, denn in diesen Büchern geht es in Wirklichkeit um Liebe.’“ Sehr schön auch die Reaktion der Ehefrau, der Mutter des Erschossenen, aus der zugleich Gleichmut und Gleichgültigkeit sprechen: „Friederike Zurek hörte ihm zu, nickte und sagte dann: ,In zehn Minuten ist das Essen fertig. Holst du bitte vorher noch die Post aus dem Kasten? Und wasch dir die Hände.’“ (Christoph Hein, „In seiner frühen Kindheit ein Garten“, Frankfurt am Main 2005, S. 137f.)