Der tyrannische Autor

Vor rund vier Wochen wurde ich von der Frankfurter Allgemeinen gebeten, Botho Strauß’ neues Buch „Der Fortführer“ zu besprechen. Heute erschien meine Rezension in der FAZ, allerdings in einer an empfindlichen Punkten des Textes eingekürzten Version. Meine Kritik an Strauß’ Verächtlichkeit gegenüber Leserinnen und Lesern, die er für minderbemittelt zu halten scheint, oder an seiner Pauschalherabwürdigung der Frau („ältestes Lasttier des Menschen“) wurde aus der Besprechung getilgt, aus Platzgründen, wie es heißt. Das Ende fehlt ganz. Deshalb hier meine ursprüngliche Rezension des Buches, wie ich sie von Mitte bis Ende März in Lenzburg im Aargau geschrieben habe:

Botho Strauß
Der Fortführer
Rowohlt Verlag
Reinbek bei Hamburg 2018
208 Seiten, 20 Euro

Von Mirko Bonné

Fortführen kann ich die Zoohandlung meiner Tante. Oder meine Tante selbst, so sie denn fortgeführt werden möchte oder muss. Bin ich dann Fortführer? Eher Fortführender. Der Fortführer bin ich erst im Wortspiel mit dem Wortführer.
Der Rahmen, in den Botho Strauß seine neuen Aufzeichnungen stellt, ist durchaus ansprechend. Zwei Teile hat „Der Fortführer“, Abfolge und Gewichtung sind überlegt und aufeinander abgestimmt. Der erste macht zwei Drittel des in gedeckten Farben gehaltenen, klassisch, ja bedeutend anmutenden Buches aus: „Zwischen Jetzt und Nu“ umfasst vierzehn unbetitelte, ihrer Kürze und motivischen Verknüpfungen wegen mühelos lesbare Kapitel – nur ein einziges Notat ist länger als eine Seite. Versehen mit unterschiedlichen Einzügen, sind alle kleinen und größeren Absätze übersichtlich, wenn nicht einladend über die Seiten verteilt, wo sie wie Strophen wirken, denn es fällt auf, dass dieser erste Buchteil im Flattersatz gehalten ist.
Nicht so der zweite, das abschließende Drittel, das dem Buch den Titel gibt. Auch hier Aufzeichnungen, nur fehlen Kapiteleinteilung und graphisches Spiel. Notate, in herkömmlicher Weise gestaffelt: bündig, ohne Einzüge. Wenn man bereit ist, gestalterische Elemente als aufgeladene Zeichen zu deuten, liegt in der formalen Raffinesse des Buches ein gewisser poetischer Reiz. Ansonsten aber ist „Der Fortführer“ ein haarsträubendes Elaborat aus verächtlichem Raunen und unfreiwilliger Komik.
Zentrales Thema scheint das Zeitliche zu sein: Vergangenheit, Vergänglichkeit. Augenblick, Dauer. Tradition, Überlieferung. Strauß geht es jedoch nicht um Alter, Muße, versöhntes, erfülltes Leben und Miteinander heute. Sein Anliegen ist nicht Verständnis. Es zählt nur Wille zur Erkenntnis. Sein Projekt ist eine restaurative Schubumkehr, zu deren Zweck er sich zum so unverstandenen wie wissenden Künder eines nahenden Heroenzeitalters stilisiert, dem Fortführer.
Sosehr hier einer erläutern zu müssen meint, was das Poetische sei, was Poesie und was Dichtung – für Strauß offenbar Synonyme, differenziert wird nicht –, so wenig poetisch sind seine Sätze. Die Bilder sind unausgewogen und schief („Grille und Geist – beide reglos vor dem jähen Sprung“), was verschwurbelte Wortwahl und gedrechselter Satzbau immer wieder kaschieren müssen. Metaphern wirken abgegriffen und instrumentiert, rhetorische Figuren zweckgebunden, durchsichtig, bemüht: „War nicht am Ende alles Richten und Zerstören bloß der Tanz zu einflußreicher Musik, die von unsichtbaren Terrassen herüberklang und zu den kühnsten Handlungen aufspielte?“ Geht es noch?
Wortspiele („Narretei des Narrativs“), Stabreime („Da! Damals“), metrische Raffungen („Und so, wie’s war, kann’s keiner fassen“), Wie-Vergleiche (der Kummer „beinahe wie ein Pferd“, der Kummer „wie eine feuerfeste Kastanie“) und Zitate über Zitate, griechische, lateinische, englische und französische, deren Übersetzungen genussvoll-schulmeisterlich gleich mitgeliefert werden – alles um klarzustellen, wo der Fachmann hier den Hammer hängen hat.
Des Fortführers Werkstatt ist seine „Bibliodizee“. Fledermausartig fliegen dort Fremdwörter umher. Zum Lachen geht man in den Keller. Nur selten leuchtet zwischen den Zeilen etwas, das an Lebenswärme, an weitererzählte Erfahrung erinnert. Ein alter Mann fällt an derselben Stelle in den Matsch wie viele Jahre zuvor sein kleiner Sohn: „Man gräbt sich in den Weg, von dem man einst sein Mannesalter von einem Kind empfing.“ Das Bild mag überfrachtet sein, gibt aber zu denken und bleibt trotz des steifen Tons im Sinn, weil es sich einfühlt und anrührt. So plump hier mit pseudo-poetischen Mitteln manipuliert wird, ist Botho Strauß’ neues Buch stilistisch gesehen jedoch fast durchweg bestenfalls enttäuschend.
Der Flattersatz des ersten Teils erinnert nicht zufällig an die bei Online-Texten übliche Form: Netz, Smartphone, digitale Kommunikation und die oft vorgegaukelt freie Verfügbarkeit von so vielem, darunter Partnerschaft und Sex – ein Themenbereich, dem Strauß sich in „Zwischen Jetzt und Nu“ widmet, indem er als bewusst Außenstehender kritisch und um einen eigenen Blick bemüht betrachtet, was für die meisten Leute einfach bloß Alltag ist oder zu sein scheint. Wer will die Wünsche anderer verdammen?
Es ist der eigene Blick dessen, der sich als „Phantast, Archaiker und Träumer“ versteht und in Abwandlung des Ausklangs von Hölderlins Hymne „Andenken“ fordert: „Wir müssen Verwirrung stiften wie einst die Dichter das Bleibende“ – ein Beispiel für Strauß’ ungenaues Lesen: Bei Hölderlin stiften die Dichter nicht das Bleibende, sondern das, „was bleibet“: Worte, Verse, Sprachmusik, Musik der Wörter und der Bedeutungen. Das Bleibende ist viel zu groß.
Verwirrung stiftet „Der Fortführer“ allerdings. Vor allem im zweiten Buchteil wird zu einem Rundumschlag ausgeholt gegen jede Form heutiger Technologie und im Hauruckverfahren damit gleichgesetzter Lebensgestaltung: „Mit den Händen eine Kelle formen, unseren Hirnglibber ausheben und in die digitale Schale betten. Wir sollen nur umgefüllt werden.“ Dieses Wir, wer ist das? Es ist rhetorische Pose. „Kommunikation und Verwesung“, nach Strauß „ein und dieselbe leibliche Wucherung, dieselben Gänge benutzen Nachrichten und Würmer.“ No comment. Dagegen kann es lediglich „der drangvollsten Botschaft“ gelingen, „auf der Liebe und des Äthers Wellen“ größere Entfernungen zu überwinden. Telefon? Skype? Nicht in der angeblich höheren Welt, die Strauß entwirft, wenn auch für nur einen Bewohner. Der sagt von sich: „Mitten im Gewühl den Kopf überm Gewühl.“ Er scheut davor zurück, zu nah an jemanden heranzutreten: „Ein Eishauch könnte seiner Brust entweichen und den anderen erstarren lassen.“ Auch das ist Pose, und wenn Poesie, dann die eines Superhelden, einer Mischung aus Iceman und Deadpool.
Erstarren lässt bei der fortgeführten Lektüre tatsächlich manches: „Die Seele (…) wird die Form eines Rachevogels annehmen und die Gespenster der Freiheit verscheuchen.“ – „Dieselbe Technik, die die optische Verschmutzung unter die Menschen brachte, ermöglicht auch, den Erdball einer photo-klastischen Reinigung, bildlichen Auslöschung, zu unterziehen.“ – „Auch sind es nicht allein die paar Dutzend heroischen Kunstwerke der Menschheit, sondern es ist das unüberblickbare Heer der von ihnen inspirierten, angetriebenen Nachfolger und Kombattanten, die alle gemeinsam sich zum Feldzug sammeln gegen den Ansturm der jungen Tage. Auf keinen Krieger kann man verzichten.“ – „Erst im Zeitalter der sozialen Netzwerke gewinnt asozial neue Konturen.“ – „Das Leicht-Deutsch aus Erkennungszeichen für die Masse der kommunikativ Sprechenden und das entfaltete für die, die ihr Hirn für anspruchsvollere Zusammenhänge fit halten müssen.“ – „Wider den Mißbrauch der Schrift beim Chatten! Beim Quatschen läßt man ja auch von der Schrift!“ – „Debilwerden als Rasseschicksal.“ – „Warum gibt es keine Verbindung (Nährstränge) von den Klugen zu den Dummen? Weil die Dummen emanzipiert sind, die Klugen aber nicht.“
Wilde Theorien wechseln sich in verbissener Oberstudienratsprosa mit Hirngespinsten, Pseudo-Philosophisches mit verbrämendem Schwulst ab. Nirgends nur ansatzweise Ironie, gar Selbstironie, keine Spur von Witz, Verwunderung, Neugier, Zweifel. Dünkel to go. Die Lektüre ist ein einziges Belehrtwerden, das Herrscherprinzip: Der tyrannische Autor demütigt statt mitzuteilen, diffamiert anstatt mitzufühlen. Krude, wenn er über „die wahren Obdachlosen“ doziert, nämlich Verstorbene. „Men’s oldest beast of burden was woman“, „Ältestes Lasttier des Menschen ist die Frau“, übersetzt Strauß, man beachte die Zeitform. Kein Wunder, dass er Frauen eine „Restlaufzeit“ zuschreibt. Dichterisches ist in derlei Äußerungen nur mehr Mittel zu schönfärbender Verharmlosung.
Die Grenze zur Perfidie überschreitet „Der Fortführer“, wenn das „Narrativ des Flüchtlingsdramas“ seine Entlarvung findet. Für Strauß ein Problem des Jargons: „Entweder ist es Erzählung oder Drama. Oder aber postdramatische Flüchtlingsperformance.“ Der Diskurs wird benutzt, sein notwendigerweise vorläufiges Vokabular verschnitten und desavouiert. An anderer Stelle wird vom „herrlichen Deutsch“ schwadroniert und, en passant, die Grammatik zurechtgestutzt, um anhand eines Schulfestes das Erlebnis „Unter-Menschen“ vorzuführen.
Da klappt man dann schon mal das Buch zu und ist einfach fassungslos.
Die finster-rigide „Gegenmoderne“, die Strauß propagiert, möchte man lieber nicht kennenlernen. Sie ist eine Unterwelt, eng wie ein Toaster. Den Heroen, denen er huldigt (Goethe, Novalis, George, Loerke, Pound, Benn) begegnet man besser mit kritischem Lesen. Strauß wäre gut beraten, The Clash zu hören oder Christine and the Queens. Er sollte sich von Jirō Taniguchis Mangas verblüffen lassen und hin und wieder in Christian Saalbergs Gedichten lesen. Das lässt die Superheldenkruste abplatzen.
Poesie fordert nichts, nur freies Atmen. Sie ist zu keiner Zeit Instrument, schon gar nicht der Herabwürdigung. Poesie ist das Bindegewebe menschlicher Überlieferung, doch nicht Sprache, Geschichte oder Vergangenheit stehen in der poetischen Tradierung im Vordergrund, sondern auf mannigfache Weise ist es immer menschliche Güte, sind es die Abgründe und Zweifel von Einzelnen, ob Frau oder Mann. Aus diesem Grund schrieb John Keats, Arztberuf und Dichterberuf seien dasselbe.
„Gäbe es für mich je ein Problem, würde ich sofort die Weltgemeinschaft um Rat fragen. Aber ich habe keine Probleme“, meint Botho Strauß. Man möchte ihm Leserinnen, Leser und Lasttiere wünschen, die ihn wenigstens von diesem Irrtum abbringen.