Die gestohlenen Stunden

„Gestohlene Stunden“, sagt ein junger Maler (Handwerker) zu einem älteren in der U-Bahn. „Sie vergessen, dir deine Stunden aufzuschreiben, manchmal absichtlich.“ Die Poesie zieht sich zurück in die Gespräche der sogenannten einfachen Leute. Gespräche finden in sogenannten Intelektuellenkreisen gar nicht mehr statt. Schriftstellerunterhaltung heißt: Unmittelbarer Austausch Fehlanzeige. Wie das Telefonieren verlorengeht nach dem Briefeschrieben, indem wir einander (eigentlich aber uns selbst) Sprachnachrichten schicken (vorsprechen), geht der innige Austausch kaputt und verliert sich. „Gestern bin ich wieder allein rauchen gewesen“, sagt der junge Maler. „Ich stand an der Hecke. Kennst du ja.“ – „Allein, an der Hecke?“, fragt der ältere nach. Er schüttelt den Kopf. „Ja. War ein guter Moment. Aber mich ärgern die gestohlenen Stunden.“ (Berlin-Zehlendorf, 24.11.)

Der überall sein Rad mit hinnimmt – er hat Angst, nicht schnell genug wegkommen zu können. Er hat Angst vor dem Feuer, dem Lebensfeuer.

Auf dem Bahnsteig kommt dir der frühere Großstadtbürgermeister entgegen – an dessen Frau du gerade dachtest. Er wirkt wie ein weißer, alter, ein welker Schatten. So wie sie auf dem Podium, das greise Mädchen, die Erfolgsdichterin.

Reiß dir alle Wimpern aus. Wünsch dir, was zu wünschen ist. Es ändert nichts, es ändert nichts. Nur deine Augen werden frieren.

Auf der Straße zwischen den Mietblöcken streiten sich lautstark – und schubsen und rempeln einander – ein Paketkurier und ein Mieter, beide auf Arabisch.

Im Laden an der Ecke, erster Frostmorgen. Ein alter Herr, offenbar Witwer, erzählt mir vom Winter ’46, zwischen den „stockwerkhohen Trümmerhügeln“. (Eppendorf, 2.12.)

Traum, ich wäre ein wilder Hund und lebe in den Hügeln über einer Metropole. Wie der Lärm am frühen Morgen in die Bäume heraufzieht, gefolgt vom Qualm des Smog. Gestalte deinen Tag. Nie vergessen, welche Freiheit diese Freiheit bedeutet.

Foto: Alec Soth, „Dog Days Bogotá“, 2007