Die Norm

Stärker als aller Mut, alle Liebe und jede Solidarität scheint die Angst vorm Versagen der Norm zu sein, vorm Abbröckeln und Zerbröckeln der Normalität. – Der junge Mann in der U-Bahn zur Touristenmeile am Hafen, dessen aufscheinende Abgerissenheit ihn entlarvt (als nicht zu UNS gehörig), welche Gefahr stellt er dar? Die größte. Er gibt vor, zu telefonieren, obwohl sein Handy (uralt) offensichtlich defekt ist. Was hat er vor? Das Schlimmste. Er steht am Rand zum Absurden. Er kündet von der Vergeblichkeit aller Absicherung – technologischer, gesundheitlicher, moralischer, zwischenmenschlicher. Vielleicht ist er Jesus Christus. Er hat so einen meschuggen Blick. Nicht ganz bei Trost. Gefährlich. Wir werden alles verlieren, und nichts auf der Welt und niemand im Himmel kann das verhindern. Die einzige Chance (das ertragen zu lernen) besteht darin, die Norm zu durchschauen – Kunst – und Widerstand zu leisten gegen ihre Tyrannen und willigen Helfer, gegen ihren zerstörerischen Zwang zu Verblödung und Vereinsamung: Miteinander. (Landungsbrücken, 1. Mai)

Das Duschwasser duftet. Am Frühstückstisch lässt die philippinische Bedienung eine silberne Kugel an einem Stab auf dein Ei niedersausen, woraufhin die Schale in genau der Weise aufplatzt, die ein Eikochbuch vorschreibt. Krack. „Grüezi“, sagt das Gesicht lächelnd. (Zürich, 3.5.)

Such das Gespräch in der fremden Stadt mit denen, die hier leben: Die meisten von ihnen sind Gespenster. Such das Gespräch in der fremden Stadt mit dem, was hier lebt – dem Fluss, den Parks, den Gärten und Wegen. Der Geschichte. Bayern. Deiner Kindheit. Sie erkennen dich wieder. Nichts in Bayern, niemand vergisst etwas. Wenig weiß man von außerhalb, aber kaum etwas vergisst man hier. Lass nicht nach, das Gespräch zu suchen mit den fränkischen Gespenstern dieser Stadt. (5.5.)

Im Antiquariat eine halbe Seite des PARZIVAL gelesen – den ganzen Tag gerettet. Wodurch, womit? Die Antwort darauf halte geheim.