Eine überdachte Brücke

Als sich lärmend und pfeifend der Demonstrationszug nähert, packt der Straßenclown seine lustigen bunten Sachen ein und hinkt langsam nach Haus. (Manosque, 7.8.)

Im Schoß der Frau die große blassrote Nektarine.

Auf dem abendlichen Friedhof taucht zwischen Mauer und Grabstein eine Katze auf, mit langen Gliedern streicht sie hervor und legt sich auf die kühle Grababdeckung aus überwittertem Marmor. Sie spielt mit den Kindern, hält Distanz, schnürt dann weiter und scheint zu wissen, dass wir sie für die Seele der vermissten Mutter und Großmutter halten, die uns besucht, weil wir sie besuchen. (Volx, 8.8.)

Verwunschen – die überdachte Holzbrücke über den Largue zwischen Volx und Villeneuve. In all den Jahren, vielleicht Jahrzehnten (so sie eine Vorläuferin hatte), hat niemand aus der Familie die im Schatten zwischen den Uferbäumen stehende Brücke bemerkt. Du warst es, der sie entdeckt hat! Oben auf dem Gipfel auf der Roche amère hast du über die Abbruchkante der Schlossruine in die Tiefe geblickt, hinunter zu dem Flüsschen, das im Winter das ganze Tal überschwemmt hatte. Unten zwischen den Bäumen, die den Largue säumen, hast du die Brücke gesehen, ihr helles Holz, ihr schwarzes Dach, ihre Beine aus Stein. Es ist deine. Dir gehört eine verwunschene überdachte Holzbrücke über den zur Durance hin plätschernden Largue.

Beim Angelusläuten der großen Glocke kurz nach 12 Uhr – man kann sie oben im Turm hin- und herschwingen sehen – ist zwischen den Schlägen kurz immer auch das Seil zu hören, das den Glockenrand entlangschabt und sich sirrend strafft, sobald es freikommt.

Der mächtige Baum – die Fassade der kleinen Waldkapelle zeigt in seiner ganzen Höhe und Breite sein Schattenabbild. (Notre-Dame de Lure, 11.8.)

In der Abendhitze (ja, -hitze!) steigt der Gecko nur wenig schneller als eine Schnecke die Fassade empor in den Schatten der Dachtraufe, und rasend schnell (wie aus Widerstand gegen diese Verlangsamtheit) erinnere ich mich an das Eichhörnchen, das einmal in Barmbek die Hauswand im Innenhof hochwetzte, die nackte, glatte Mauer hinauf und wieder hinunter und wieder hinauf und wieder hinunter, fünfzehn, achtzehn Meter in die Höhe in einem Affenzahn (der Sieg des Erfindungsreichtums über die Schwerkraft), bestaunt von den Leuten, die an die Fenster kamen, um dem flammendbraunen Spektakel mit buschigem Schweif Bewunderung zu bekunden.

Ein erstaunlicher Vers taucht zu Beginn von Jannis Ritsos’ Gedicht „Blockade“ auf, datiert 28.5.68, geschrieben im Gefängnis für politische Häftlinge auf der Verbannungsinsel Leros: „Sich nicht erinnern, / nicht vergessen.“ Ritsos schreibt weiter – aber da ist das Gedicht bereits erneut Narration: „Die Gegenwart – sagt er – welche Gegenwart?“ So die Übertragung (durch Armin Kerker) den Sinngehalt des Griechischen erfasst: Wo, worin sieht Ritsos den Spielraum an der Grenze zwischen Nichterinnern und Vergessen? Eine rein zeitliche Auflösung und Ineinanderführung von Vergangenem, Gegenwärtigem und Künftigem in dem Vers zu lesen, scheint mir zu kurz zu greifen, und auch Ritsos selbst hat die Tragweite der Passage womöglich unterschätzt. (13.8.)

Schreib ein Gedicht, in dem sich an jeden Vers anschließt: „– das ist nicht wahr.“

Die Lyrikerin erzählt, auf Lyrikreisen habe sie stets einen Tauchsieder und eine Tütensuppe im Gepäck. Genau so liest sich, genau so liest sie ihre Lürick. Instantverse. Tauchsieder und Tütensuppe.

Japan – Oil on canvas
David Sylvian – Blemish
David Sylvian – Dead bees on a cake
David Sylvian – Everything and nothing