Erinnerungen an Jugoslawien 1/5

Du musst beginnen, deine Erinnerungen an das frühere Jugoslawien aufzuschreiben, erstens damit du sie nicht zur Gänze vergisst – nur ein paar Gedichte und zwei, drei Handvoll Notate hast du geschrieben bisher über die Reisen in die Vojvodina, durch Slowenien nach Kroatien, nach Istrien, auf die Insel Krk, über Split, über die Überfahrt von Split nach Vela Luka auf Korčula. Du warst nie in Bosnien, leider nie in Sarajevo. Du warst einige Male in Novi Sad, ein paar Tage lang in Belgrad, ansonsten vor allem in der Gegend südlich von Subotica, wo man seinerzeit noch viel ungarisch sprach.
Du warst während des Balkankrieges auf dem Balkan. Wann genau war das? Was hast du erlebt?
Zum anderen musst du versuchen, deine Erinnerungen festzuhalten, weil einer der dir allerwichtigsten Erzähler über Jugoslawien einen furchtbaren Schrott zusammenschreibt immer dann, wenn er anfängt, von politischen Zusammenhängen zu schwadronieren. Diese aber sind nie ohne die Menschen zu denken. Denn was, bitte, wäre irgendeine Politik ohne die Menschen, die sie angeht oder ausklammert, die unter ihr zu leiden haben oder von ihr profitieren?
Peter Handkes größtes Versagen in seinen Büchern über Jugoslawien ist das Verschweigen. Keiner, der sich auskennt wie er in den Ländern zwischen Österreich und Griechenland, kann die Augen verschließen vor den Gräueln, die nicht allein, aber vor allem durch Serben und Bosnien-Serben anderen, ihren Nachbarn, zugefügt wurden. Die Ausgewogenheit in dieser Frage ist von immenser Bedeutung. Immer wieder ist Peter Handkes Büchern – „Abschied des Träumers vom Neunten Land“ (1991), „Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien“ (1996), „Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise“ (1996) und „Unter Tränen fragend“ (2000) die Absicht anzumerken, auf radikale Weise für Ausgewogenheit zu sorgen – diese Absicht allerdings wird in jedem dieser Bücher immer wieder zernagt vom Dünkel, von Verletztheit und Geltungsgier. Wie kann ein so ernster Schriftsteller mit seit 1966 kultivierten Ansätzen einem skrupellosen Machtmenschen wie Slobodan Milošević die Reverenz erweisen?
In „Die Tablas von Daimiel“ (2006), einem ganz offensichtlich viel zu schnell zusammengeschusterten und am Schluss poetisch aufgepimpten Bericht über seinen Besuch im Gefängnis von Scheveningen in den Niederlanden, wo Milošević während des Haager UN-Kriegsverbrechertribunals einsaß, schreibt Peter Handke: „All die Zeit sprach fast nur Slobodan Milošević, mit beinah der Energie, und Geistesgegenwart, die mir als Zuhörer bei seinem Prozeß vertraut war, mit einem Zusatz vielleicht einer gewissen Ruhe, hier in dem Büro nichts widerlegen und niemandem etwas beweisen zu müssen, trotzdem aber mit so weit ausholenden Argumenten und Hintergrundbezügen, als spräche er zu mir und zugleich zu seinen a priori unwissenden und verständnislosen Richtern. Wie Milošević sich gab (ich, sein Gegenüber, hätte dabei auch gleichwelcher anderer sein können), das war weder privat noch öffentlich, vielmehr eine Kombination, nein, eine Einheit von beidem, so selbstverständlich, geradezu naturgewachsen, wie ich sie noch bei keinem Politiker erlebt habe.“ Der Mangel an Aufrichtigkeit in diesen Sätzen ist eklatant – „a priori unwissende und verständnislose Richter“ –, eine devotere Verblendung kaum vorstellbar: eine geradezu naturgewachsene Einheit aus privatem und öffentlichem Auftreten? Bei einem früheren Staatspräsidenten, dem Anstiftung zu zigtausendfachem Mord vorgeworfen wurde?
Ausgewogenheit kann erst beginnen, indem ein jeder, der ein Mensch ist und menschlich denkt, seinen Respekt erweist vor den Schwächeren und Schwachen, d. h. im Extremfall vor Opfern, Verletzten und Toten, egal auf welcher Seite. Du schätzt und bewunderst, ja liebst Peter Handke als so eigensinnigen wie unbestechlichen Erzähler und Dramatiker, Dichter und Tagebuchschreiber, Zeichner und Reisenden. Du liest Handke seit 1985. Gut. Wer außer Thomas Bernhard und W. G. Sebald hätte es in den vergangenen 30 Jahren wie Handke vermocht, den deutschsprachigen Satz und seine Konstruktionsprinzipien in fruchtbare Zweifel zu ziehen, ohne dabei aufs Erzählen, den „Fahrtwind“, wie Handke sagt, zu verzichten – es ist der Stilist Peter Handke, der mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wird.
Der Mensch Peter Handke hat sich aufs Übelste hinreißen lassen, zynisch und verletzend von so furchtbaren Geschehnissen zu schreiben und ansonsten zu schweigen wie jenen im Sommer 1995 in Višegrad und Srebrenica.