Hatsune Miku

Drei Lebensbeschreibungen gelesen – Schande, wie erbarmungswürdig mir seither die Gestalt des Andreas Gryphius erscheint! Aber hilflos, ohnmächtig ist doch in Wirklichkeit nur die wissenschaftliche, verwissenschaftlichte Biografieschreibung, die kein bisschen Leben, nichts Zweifelhaftes, kein Spucken, kein Äugen zulässt von dem vor 400 Jahren begonnenen Leben zwischen Glogau, Leiden, Glogau, Danzig, Glogau, Breslau, Glogau. Kein Bild von Andreas Greif – vom „Gryph“, wie der zackige Walter Jens ihn ewigbeflissen von oben herab nennt. Dennoch spricht gerade aus den frühen Sonetten deutlich der Jugendliche, der gestenreich ungestüme, zweifelnde und neugierige junge Mann. (27.6.)

„Magensäure“, sagt das Kind, „könnte in sieben Sekunden ein Fahrrad auflösen.“

Heute wieder Keats. Da in der Publikation von „Die Poesie der Erde ist nie tot“ neun leere Seiten zu bestücken sind, suche ich alte, bisher unveröffentlichte Sonettübertragungen heraus – vor 25 Jahren entstanden, so alt, wie Keats nur wurde. Ich muss schon da wie ein Bekloppter geschrieben haben, auch wenn es sich leichter anfühlte als heute (Trugschluss). Wer ist der, der das alles zusammenstückelte, tausende und abertausende Seiten? Ich fühle mich nicht identisch mit diesem „Mirko“. „That what I want I know not where to seek“, las ich heute in meiner fremden Handschrift von 1991. Und in einem Notizheft von 1988: „Der König ist entthront. Er hat immer nur gelogen.“ Damit konnte nicht Herr Erdogan gemeint sein, denn der war da gerade 34 und dabei, als die türkische Wohlfahrtspartei zur Tugendpartei wurde. Ich erinnere mich, dass der, der das damals notierte, an meinen oder seinen Vater dachte. Auch der hatte allerdings mit Wohlfahrt oder Tugend nichts am Hut.

Das Kind sagt, es freue sich auf die Vollnarkose. „Ich werde herausfinden, wie lange ich widerstehen kann gegen die Ohnmacht.“ (1. Juli)

Hatsune Miku Hatsune Miku hat Millionen Anhänger, es gibt Devotionalien jeder Art von ihr, sogar Ganzkörperkissen, die der verliebte Fan ins Bett mitnehmen kann. Hunderte haben Hatsune Miku bereits geheiratet, und jedem war und ist dies möglich, denn Hatsune Miku ist kein lebendiger Mensch, aber auch tot ist sie nicht, sie ist eine virtuelle Figur eines japanischen Software-Konzerns, die allerdings im Laufe von zehn Jahren eine Art künstlerisches Eigenleben entwickelt hat. Hatsune Miku singt, ihre Gestalt tanzt und schreitet über den Bildschirm, der in Bühnengröße über der Bühne aufgespannt ist, und tausende ihrer Anhänger hören ihr im Saal zu, schwenken ihre Smartphones und singen Hatsune Mikus Songs mit: „Tell your world“, „World’s end dancehall“ und „World’s end umbrella“.

Achte auf die, die zögern, „ich“ zu sich zu sagen. Sie suchen das Gespräch.

Ein gutes Projekt: sieben Jahre Gras.