In Keuschheit und Demut

Einmal, erinnere ich mich, ging ich schon sehr früh am Abend in die Musikkneipe, in der ich seinerzeit, vor fast 35 Jahren, mein Leben beschließen wollte und die bezeichnenderweise „In Keuschheit und Demut“ hieß, und um nicht haltlos der an mir nagenden Langeweile ausgesetzt zu sein, nahm ich Hemingways Storys „Männer ohne Frauen“ mit und las darin an einem Tisch, an dem gegenüber zwei ältere, da noch immer junge, heute bestimmt sehr alte Mädchen saßen und, wie mir lange nicht auffallen wollte, mich aufgrund meiner Lektüre schallend auslachten und mit gespielt traurigem Winken, wenn nicht obszönem Tanzen vertrieben. Morawazweifel Ich bin dann am Abend darauf wieder dorthin gegangen, setzte mich, keusch und demütig, wie ich war, an denselben Tisch und las auch wieder, diesmal Hemingways Storys „Der Sieger geht leer aus“, weil mir der Titel zugleich unschuldig, melancholisch, wehrhaft und doppelbödig erschien, und auch die Frauen waren da, aber das Lachen war ihnen vergangen. Und ich? Mir war mindestens ebenso viel vergangen.

Selten durch einen so dichten Nebel gefahren wie vorgestern durch die Suppe bei Hagenow. Eine weiße Weite. Die tiefstehende Sonne eine zerzauste Corona im Dunst. Kräne, Brücken, die ins Nichts zu führen schienen. Überhaupt alles ringsum Schein. (21.11.)

Das Bundesministerium des Erinnerns?

Wie ich die ein halbes Jahrhundert alte Strickjacke ansehe, fällt mir ein, was ich als Junge manchmal dachte, wenn mein Großvater vor mir stand und ich die Leiste seiner Metallknöpfe sah: „Kein Mensch außer ihm hat Markstücke an die Jacke genäht.“

Große Morawa

Wer Handke liest, der weiß: Es gibt ein situatives Lesen, das sich frei von allem, allem theoretischen Eingezwungen-, Zurechtgezwungensein macht – und so auch von Peter Handke, dem Unglücksritter, dem Befreiungsfabulierer, dem Prinzen von Nirgendwo. Hier, mitten in der „Morawischen Nacht“, die ich seit einem Jahr lese: „Jeder ist, wie er ist. Und alle die Schuhbänder, die nicht aufgehen. O Gerumpel der Morgengedanken. Das Singen meiner Mutter hat verhindert, daß ich Sänger wurde. Ich störe, aber ich möchte nicht stören. Den verlegenen Geber liebt Gott noch mehr als den fröhlichen, und den aufgeregten Geber liebt er am meisten. Wie man herumirrt im Universum. Ich liebe zu wenig. Es ist keine Schande, zu atmen. Grün war schon lang nicht mehr. Vor lauter Schauen sehe ich nichts mehr. Eigentlich sollte man öfter sterben. Niemand beherrscht die Welt. Die Sorge, sie ist nicht episch. Wenigstens bin ich allein. Es ist entsetzlich, wie man sich aus den Augen verliert. Alles ist Irrtum. Wörter nehmen, nicht Farben! Nichts ist gesund! Kauf nichts! All die Zeit! Und morgen geht’s weiter …“

Fotos: Westliche und südliche Morawa fließen ineinander: Morawazweifel (1); Die Große Morawa, nicht schiffbar (2)