Karte und Brief

Noch immer in dem Berggasthof von Natzwiller in den Vogesen: Traum von dem Ballon, den ich als Achtjähriger losschickte auf die Reise, versehen mit einer handgeschriebenen Karte – den ich mir vorstellte, wochenlang, auf seinem Flug über die Alpen, das Riesengebirge gen Osten, Rosenheim, Wien, Prag, allein in den Wolken und im blauen Himmel, bestaunt von den ziehenden Vögeln. Eines Tages kam die Nachricht, dass er bis nach Böhmen getrieben war, der weiteste der ganzen Schule (Marienstein) – und ich erhielt als Gewinn ein Kugelschreiberset, mit dem ich nie ein Wort schrieb.

Das Dorfmädchen, das jeden Spätnachmittag auf der Brücke über die Serva sitzt und so laut jammert, dass jeder in der Nachbarschaft die Fenster schließt – sie hält einen Schreibblock auf den Knien, sie kaut auf dem Stift, sie rauft sich das Haar, um dann erneut ihr markerschütterndes Wimmern hören zu lassen. Was fehlt ihr? Sicher, sie ist, auf ihre Weise, behindert. Aber was hindert mich, zu ihr zu gehen, mich zu ihr auf die Serva zu setzen? Mein grenzenloses Erstaunen, als ich heute Abend begriff, dass sie nicht jammert, sondern singt, verzweifelt, weil ihr das eine Lied nicht gelingt – ehe die Freude sie neu überkommt, da draußen zu sitzen, in der Dorfmitte, auf der Brücke über dem rauschenden Bach, und alles, was ihr durch den Sinn geht, aufzuschreiben – (Natzwiller, 17. Juli). „Sing bitte weiter …“