Landgang, der achte

Schafe bei Fedderwardersiel – die Lämmer auf dem Deich, wissen oder ahnen sie, dass sie Schafe sind, dass sie ein Schaf vor sich haben, wenn sich etwas an sie schmiegt? Hält sich ein Schaf für ein Schaf oder vielleicht für das Schaf schlechthin? Oder erkennt es nur die Herde, die Schafe, zu denen es sich zählt? Zählt es sich dazu? Zählt das Schaf Schafe?

Zwischen Waddens und Tettens Boßelmarken kilometerlang auf dem Asphalt der Straße hinterm Deich.

Drüben, am anderen Weserufer, liegt Bremerhaven im Dunst, fünfeinhalb Kilometer lang Richtung See erstrecken sich die Containerquais zum Entladen der Riesenfrachter vorwiegend aus dem fernen Osten. Der Nordhafen dort drüben wurde von den Nazis errichtet für ihre beiden nie zustande gekommenen Naziflugzeugträger „Graf Zeppelin“ und dessen namenlos wieder verschrottetes Schwesterschiff „Träger B“. Die Flugzeuge für die Flugzeugträger sollten gleich vor Ort und Stelle produziert werden, damit sie möglichst schnell einsatzbereit waren, um Tod und Verderben nach England und Skandinavien zu bringen, Stukas, Junkers-Torpedobomber und Messerschmitt-Jäger, die drüben in Blexen, in als Bauernhöfe getarnten Produktionshallen entstehen sollten. Zum Glück aber wurde daraus nichts, das will ich nicht vergessen. Eine Zeitlang wasserten immerhin die Postflugzeuge der beiden großen Amerikadampfer „Bremen“ und „Europa“ im Bremerhavener Nordhafen, aber auch das ist lange her. Ob Fedderwardersiel oder Nordenham, das einmal wichtiger Auswandererhafen war – viele Nordseehäfen strebten über Jahrhunderte nach allem, wofür Bremen und dessen einstiger Hafen heute stehen, merkantile Weltoffenheit, den Reichtum des Handels und Austauschs, bei Weitem nicht nur von Waren.

Eine merkwürdig tiefgreifende Ruhe erfasst dich in dem warmen Septemberwind auf der Halbinsel Budjadingen. Die Grasweiten, die Gemächlichkeit der wenigen sichtbaren Tiere, das Rauschen der Kastanien und Nussbäume im Seewind. Die Menschen scheinen noch Zeit zu haben. Oder sie nehmen sie sich für die Dinge, die zu tun sind.

Eine Frau kommt gefahren, elegant wie der Wind, und lehnt ihr Rad an die Kirchenmauer.

Auf dem Blexener Kirchplatz sucht ein kleiner Junge mit seinen Großeltern Kastanien. Als er über die Friedhofsmauer blickt und dort auf den Gräbern zwischen Grabsteinen und vereinzelten Blättern unzählige der braunen Nüsse entdeckt, bricht er in so lautes Jubeln aus, dass die Toten erschrocken zu flüstern beginnen.

Eine halbe Stunde lang bin ich allein in der Kirche St. Hippolyt in Blexen, der ältesten in der Wesermarsch. Nur drei Kerzen brennen in dem nach Moder und Herbst riechenden Gemäuer, dessen Altar der barocke Expressionist Ludwig Münstermann gestaltete – nach ihm heißt eine Straße in meinem Hamburg-Barmbeker Viertel. Sorgsam zusammengebaute Segelschiffmodelle hängen von der Decke wie nautische Marionetten. In der Endlosigkeit aus Wasser, Wind und Zeit vor der Eindeichung des Koogs stand die Kirche bei den schweren Sturmfluten im 17. und 18. Jahrhundert im Wasser, wurde schwer beschädigt – Schäden, die man sichtbar bleiben ließ –, ging aber nie völlig unter. Die Schiffe umsegelten St. Hippolyt, so lange, bis das Kirchenschiff von Land aus wieder zu betreten war.