Landgang, der fünfte

Neun Mal ist die Stadtkirche von Jever bis heute abgebrannt, zuletzt am 1. Oktober 1959. Auf dem Kirchplatz, unter den alten Bäumen dort, sitzen an dem heißen Septembertag – es ist der letzte Hitzetag des Jahres – Teenager und hören laut aus ihrer Blue-Ray-Box bösen, sich böse gebenden Deutsch-HipHop. „Du fickst mich nicht, Digga, denn ich fick dich, Digga, bin ich dein Nigga, Digga, du bist mein Nigga, Digga“ … Die Verbundenheit kennt keine Grenzen, schon gar nicht die der Jahre, des Alters, der Generationen oder Geschlechter. Zwei Mädchen mit dünnen Armen und Beinen kreischen, dass man sie noch an Jevers Stadtrand hört, die Jungs blödeln herum, sie machen sich zugleich lustig und lächerlich … und der Küster der Stadtkirche, der unter den Bäumen hindurch schon davoneilen will, hält inne und dreht sich um, als ich ihm zurufe. Er äugt hinüber zu den Jungs und Mädchen, doch kommentiert nichts, lässt die grölende Meute junge Leute von heute sein, so wie auch sie ihn Küster und mich einen neugierigen Dichter.

Schlaflos in Jever

Überall in den Baumkronen schlafen
die Vögel von Jever, die Krähen, die
Tauben, Meisen, Amseln und Häher.

Ihr Häher! Kennt einer die Tragik der
jungen Leute von Jever? Sie können
nicht schlafen, die Teenager in Jever,

sie sitzen unter Bäumen, in denen ihr
oben auffliegt, wegfliegt, zu denen ihr
am Abend zurückfliegt, euren Schlaf-

bäumen, sie hören Musik, sie können
nichts und niemanden berühren, und
sie können nicht schlafen, nur stören.

Je verschlafener Jever, umso müder
außen, aufgekratzter innen, jüngere
Jeverer, junge Jeverinnen. Ihr Stare!

O Singen! Schlafen! Nur, Jever riecht
nach Hopfen und endet nach sieben
Straßen. Dort jagen sie hin, die Tee-

nager auf ihren Bikes und Boards in
der Frühe nach einer durchwachten
Nacht. Keckert, Jevers Häher, lacht!

In der Kirche jedoch schläft seit fünf
Jahrhunderten der letzte Häuptling.
Fest schlummert dort Edo, um den

alles sich versammelt, was jung ist
und glaubt an ein besseres Leben,
ein See-, ein Erd-, ein Jeverbeben.

„Das Denkmal“ – sagt das jemand in Jever, so weiß auf der Stelle jeder, welches gemeint ist, denn es scheint nur eins zu geben. Im von allen Bränden verschonten hinteren Teil der Stadtkirche liegt unter einem hölzernen Baldachin der aus Stein gehauene Kenotaph Edo Wiemkens, das Scheingrab des letzten ostfriesischen Häuptlings. Der Küster erläutert die versteckten Raffinessen des Grabmals, das keines ist, sondern eben ein Denkmal, er weiß genau, bis wohin sich das Feuer vorfraß, sodass ich es mir vorstellen kann, während in meinem Rücken durch die Fenster das helle Licht auf das moderne Kircheninnere fällt, dort, wo das Feuer so oft schon gewütet hat. Wieder im Freien, in der Sonne, eilt er endlich davon – Jugendtreff am Spätnachmittag. „Da muss ich hin“, ruft er lachend. „Die brauchen einen wie mich!“