Landgang, der sechste

Maria von Jever, Edo Wiemkens Tochter und Thronerbin, gilt bis heute als wohltätige Herrscherin. Allen Abbildungen und Darstellungen ihrer Person sieht man die Liebe der Leute an, die weichen Züge, der offene Blick, die schmale Gestalt, das Hütchen mit dem Federbüschelchen daran, fast gouvernanten- oder Mary-Poppins-haft wirkt jenes Fräulein Maria, das Jever und dem Jeverländischen eine eigene Identität verlieh und sie so behutsam wie bestimmt absetzte vom Friesischen. Maria von Jever íst als historische, als zeitlose Gestalt auch deshalb so faszinierend, weil sie ja nicht gestorben sein soll. Glaubt man den Leuten, so lebt Maria noch immer. Sie verschwand, heißt es, in einem Gang unter dem Schlosspark und ward nie wieder gesehen. Jeden Abend schlägt deshalb das Glockenspiel am Schlosspark, dessen Klänge die in der Zeit, in der Geschichte Verschollene zurückgeleiten sollen. Allerdings stellt sich die Frage, wohin Maria denn verschwand – nach Oldenburg? nach Bremen? Wer verschwindet schon nach Bremen! Die wir lieben, verschwinden nur scheinbar. Sie beweisen jeder für sich auf unterschiedliche Weise, wie bedeutungslos die Erfindung des Todes ist. Maria von Jevers Lieblingshund macht dies auf besondere Weise deutlich: Der Windhund, den das Denkmal am Schlossplatz neben der Herrscherin zeigt, schmiegt den Kopf an Marias Hüfte, und sie hält die Hand zärtlich über dem Scheitel des offenbar klugen, ohne Zweifel geliebten Tiers.

Überall in Jever präsent ist das weltbekannte Brauhauserzeugnis. Die ganze Stadt mutet grün-golden an vor lauter Reklame – was verspricht sich der Konzern davon?

Überall in Jever scheint der Stadtrand durch die Häuserreihen, ja die Häuser. Jenseits davon ist es grün, das Land ringsum, Jever, das Jeverland. Und wenn die Sonne scheint, ist es grün-golden.

Die Chorfrauen verabschieden sich voneinander – und singen noch ihre „Tschü-üss“- und „Ja-a“- und „Bis nächsten Mi-itwoch“-Melodien.

Peter Gabriel singt zu Marias Verschwinden am Ende seines Songs „Wallflower“ auf seinem vierten, noch einmal unbetitelten Album von 1982:

„though you may disappear
You‘ re not forgotten here
And I will say to you
I will do what I can do“

Beim Blaudrucker in Jevers Altstadtgasse Kattrepel, einem der letzten noch praktizierenden Handwerker seiner Zunft, sind lauter Seniorinnen und Senioren zu Gast, die die Werkstatt mit den vielfältig blau gefärbten und bedruckten Tüchern, Hemden, Jacken, Mützen und Kissen in einen indigoblauen Taubenschlag verwandeln. Der Blaudrucker beantwortet gelassen und profund jede Frage und kassiert dabei sogar eigenhändig. Die Preise sind stolz, der Mann und sein Beruf aber sind es auch. Ich habe den Eindruck, in einem blauen Raumschiff aus dem sechzehnten Jahrhundert zu stehen, und bewundere vor allem die Schnitte, die Muster, die Darstellungen aus der Tiefe der Zeit, darunter den „harnakischen Tanz“, der verborgen in der blauen Pracht sogar das erotische Flirten seiner Zeit abbildet und anhand seiner so kräftigen Bläue vorstellbar werden lässt. Das Blau wirkt sich sonderbar stimulierend aus, man beginnt tief zu glauben, zu staunen und ahnen. Ein Gedicht von Christian Saalberg kommt mir in der Stunde im Blaudruckerhaus von Jever in den Sinn, „Man sagt“ heißt es, und die letzte Strophe lautet so:

„Der September verbrennt die alten Tage.
Aus den Trümmern klaube ich mir vom Himmel
    das letzte Blau.
Schminke für die Augen, wenn es graut.“

Abbildungen – 1: „Maria von Jever“, Gemälde Caspar Heinrich Sonnekes (1821 – 1899), Stadtmuseum Oldenburg; 2: Indigoblau bedruckte Wandbespannung aus der Blaudruckerei Im Kattrepel, Arbeit von Blaudrucker Georg Stark; 3: Erläuterungstafel zur Wandbespannung in der Blaudruckerei