Mehr Notizen zu Zlín

Stünde im Waschsalon nicht alles auch auf Englisch an den Tafeln, ich würde ab morgen zu verwahrlosen beginnen. Vorbei mit deiner Inselpracht. Du musst dich nicht verkriechen, vielmehr umsteigen. Es gibt andere Drogen als die der Abgeschiedenheit.

Sogar die Uhrzeit ist anders, zumindest in meiner Wohnung in Zlín-Kúty. Den neumodischen Ultra-Touch-Eletronická-Herd und seine einzige Uhr in der Bude kann ich nur eingeschränkt bedienen. Unveränderbar ist es 74 Minuten früher.

Im Supermarkt gibt es Mandle plátky Naturalia. Und es gibt Hermelin in der Tüte, Hermelín Sedlčansky. Wo immer ich tschechische Sprachfetzen höre, elektrisieren sie mich. Ich verstehe kein Wort, aber höre die Längungen und die Weichungen, die mir etwas mitzuteilen scheinen. Ich denke an Trakl und daran, dass er zu seinem Freund und späteren Nachlassverwalter Karl Röck gesagt haben soll, auch mit Gedichten könne man sich nicht mitteilen. „Man kann sich überhaupt nicht mitteilen“, soll Georg Trakl im Winter 1912 in der Innsbrucker Stehbierhalle zu Karl Röck gesagt haben. Wahrscheinlich weil ich es nicht verstehe, höre ich etwas tief Warmes im Tschechischen, es hat viele Schattierungen, und es kommt aus einer Zeit, die nur fortbesteht, weil die Überlieferung fortbesteht.

Vom anderen Flussufer lacht eine Frau herüber, und im selben Moment ereignet sich, was ich längst vergessen habe.

Die Lutoninka fließt in die Dřevnice, die in die March fließt. Die March fließt in die Donau und die Donau ins Schwarze Meer. „Least rivers – docile to some sea / My Caspian – thee“ lautet eines der kürzesten Gedichte von Emily Dickinson, es trägt Johnsons Nummer 212.

Die südmährische Landschaft zwischen Zlín und Hluk ist hügelig, voller weiter Täler, die zu Feldern heraufkommen. Überall an den größeren Straßen stehen Heiligenbilder, oft sind sie blumenverziert. Man sieht viele überfahrene Tiere, vor allem Igel.

Die Augen der Pferde, die zwangsweise beteiligt waren am „Ritt der Könige“ durch Hluk, erschienen mir zuerst ängstlich wie immer, wenn Pferde gezwungen sind, es mit uns zu tun zu bekommen. Aber es lag auch Erstaunen in ihren Augen. Wieso machten wir das? Der Umzug war schmal, da fast schon zu Ende, und doch beeindruckend, auch wenn er sich pünktlich verlor. Die jungen Männer, die die Könige, Ritter und Knechte darstellten, waren zwar keine Jünglinge mehr, aber sie hielten in ihrer Mitte auf einem Schimmel einen maskierten Reiter in Brautkleidern versteckt, der mir neben den Blicken der Pferde wie das eigentliche Kraftzentrum des ganzen Zuges vorkam.

Unterhalb der Hluker Kirche steht am Portal ein Engel vor den Daten der örtlichen Weltkriegsgefallenen. Auch hier, wie überall wohin ich komme, ob in die Provence oder die Toskana, gibt es die Tafeln mit den Namen junger toter Soldaten. Mein ganzes Leben lang verfolgen sie mich. Der Engel ist erstaunlich realistisch, fast real. Wäre er nicht aus Stein, es gäbe zwischen mir und ihm keinen Hinderungsgrund, uns zu unterhalten.

In der Nacht braust ein Unwetter los, wie ich es zuletzt in Rio de Janeiro und in Shanghai erlebt habe, ein Taifun über Zlìn. In Rio und in Shanghai stürzten unfassbare Mengen an Regen zur Erde. Ich weiß noch, der Bus nach Ipanema, in dem ich saß, er schwamm mehr, als dass er fuhr. In Shanghai zertrümmerte der Regen einem Fahrradkurier die Fracht, er hatte einen Eisberg aus Styrorporfetzen geladen. Aber an der Dřevnice regnete es nicht, sondern stürmte. Der Wind ließ die Birken hin und her wanken, wie er wollte. Der Sturm hieß Jahomir, und er wollte unbedingt der größte Sturm aller Zeiten sein, zumindest in Zlin. Bitzlichter. Blitze. So lesbar wie unlesbar waren ihre Ypsilons am rosa Himmel.

Der Regen hielt eine Nacht, einen Mittag und Nachmittag an, dann kam der blaue Himmel zurück und die schöne Sommersonne durch die Fenster.

Graues Zlín seit zwei Tagen. Ein Gerüstbauer oder Maurer geht mit seiner Freundin Frau Bierflasche unter meinem Balkon vorbei. Was sollte ich ihm sagen, wenn ich seine Sprache spräche? „He, lies Tom Stoppard!“? Wohl kaum. Worüber sollten wir also reden, falls wir uns verstehen könnten?
„Fischen in der Morava, wie schön das noch war 1977“, würde er vielleicht sagen.
Und ich antworten: „Das Jahr, in dem Peter Gabriels erstes Soloalbum erschien. Gabriel wäre nach der Wende bestimmt nach Zlín gekommen, um im Großen Kino zu spielen – aber keiner hat ihn eingeladen.“
„Mich hat auch keiner nach England eingeladen“, würde der angelnde Maurer sagen. „Ať ryby nikdy nechybí!“

In Prag das Licht auf der Moldau. In Prag das Gras zwischen den Kopfsteinpflastersteinen.

Mein Dichterfreund, Sohn eines vorm Schah nach Prag geflohenen Iraners und einer Tschechin, Farhad Showghi kam hier 1961 zur Welt und hieß ursprünglich ganz anders, wenngleich der Nachname auch ähnlich klang. Ich kenne meinen Freund seit 35 Jahren, aber das hat er mir erst heute in einer WhatsApp geschrieben.

Die Quader von Otrokovice und Malenovice schieben sich zu Zlín zusammen, aber wirklich.

Die junge Vietnamesin fragt mich, was ich außer Mango Pulp in Zlín suche, und ich erkläre es ihr. Sie ist schwer begeistert, Poesie, Romane, weite Reisen, und sie wartet, bis ich danach frage, bevor sie zu erzählen beginnt von ihrem Mann und ihrem Laden, den die beiden jungen Eltern erst seit vier Monaten haben.

Die Notfallaufnahme im Parkkrankenhaus von Tomas Bat’a ist bestens organisiert. Das Blut meiner Frau wird binnen drei Minuten analysiert. Während ihre Assistentin ein Rezept ausstellt, befragt uns die lächelnde Doktorin mit der Opernsängerinnenpräsenz zu literarischen Vorlieben.

Begegnung am Grab der Schuhkönige. Über den Waldfriedhof flitzt ein mutterloses Rehkitz. Immer wieder bleibt es stehen, lauscht und staunt herüber. Es hat keine Schuhe, es hat keine Schuhe, es hat keine Schuhe, aber kennt die Ruhe, kennt die Ruhe, kennt die Ruhe.

Als der Schuhkönig 1932 bei Otrokovice mit seiner Junkers abstürzte, war sein Sohn zu jung, um das Imperium fortzuführen. Tomáš Jan Baťa ging sieben Jahre nach dem Tod des Vaters nach Kanada und wurde dort seinerseits Schuhkönig. Erst 1989 kehrte er nach Zlín zurück und rücküberführte das verstaatlichte Königreich seines verstorbenen Onkels in ein noch größeres Schuhimperium. Tomáš Jan Baťa starb 2008. Seine Grabplatte ist in die des Vaters eingelassen.

Auf dem Zlíner Waldfriedhof liegt auch Karel Zeman begraben, der für seine Trick- und Animationsfilme u. a. in Cannes und Venedig ausgezeichnet wurde und der in Zlín-Kudlov zunächst im Bat’a-Filmstudio Werbefilme für Schuhe drehte. In Kudlov bestaune ich die St. Wenzelskapelle des Bat’a-Architekten František Lydie Gahura, ein minimalisierter Backsteinblock von eigensinniger Schönheit, leider ebenso verschlossen wie Gahuras etwas größere, aber genauso wundersam strikte Viereckkapelle des hll. Kyrill und Method in Komárno. Auch František Lydie Gahura liegt auf dem Zlíner Waldfriedhof bestattet.