Sternenversorgung

Nicht der Verlauf der Verse bestimmt die Form des Gedichts, es ist umgekehrt – und dann ein Wechselspiel, Wechselklang und Wechselgesang.

Vier Tauben trinken aus einem Handbrunnen am Straßenrand. Über ein ausgebleichtes Grasfeld schiebt ein Junge mit Geigenkasten auf dem Rücken sein Fahrrad durch die grelle Sonne. (St. Etienne des Orgues, 6.8.)

In der Bergkapelle Notre-Dame-de-Lure ist alles vergessen. Nur die waldbodenfarbenen Schmetterlinge beten noch.

Wir sonnen uns am Stausee bei St. Etienne des Orgues drei Meter unter dem Wasserspiegel.

Le cancer artistique. Der kunstvolle Krebs.

Das fatalste Versagen von allen – die Skrupellosigkeit. Gewissenlos sein heißt gewissenlos bleiben zu wollen. Was gewesen ist, will der – will die – Gewissenlose nicht wissen. Das Wesen der Rücksichtslosigkeit ist die Ichsucht, die Egokratie, das blicklose Kreisen um die eigene, leere, schwarze, mittelmäßige Mitte.

Handwerker, die verdammten Philosophen des Alltags.

Die Ça-va-Begrüßungen am frühen Morgen im Dorf, hin und her gerufen zwischen den sich rasch aufheizenden Hauswänden: „Ça va?“ – „Oui! Et toi – ça va?“ – „Oui!“

Neonreklame: ALIMENTATION D’ÉTOILES. Sternenversorgung. (Manosque, 9.8.)

Die Rätsel der Muster unterhalb der Wasseroberfläche in der unbegreiflich machtvoll und prachtvoll vorüberströmenden Sorgue – sie sind ebenso die Muster der Rätsel. (Fontaine de Vaucluse, 11.8.)

Aprikosenbäume, Pflaumenbäume, Mirabellenbäume, Apfel- und Birnbäume, Feigenbäume – der Obstgärtner geht barfuß unter ihnen umher (streicht ab und an über einen Stamm), erläutert die Fruchtfolge, die Bodentrockenheit, während zwischen den Wurzeln Hühner picken. Er ist braungebrannt (trägt die Sonne auf der Haut), lacht, ist wirklich, weil wirklich zu Hause, und er fragt ohne Scham, ohne Spott nach deinen Romanen, deinem Werdegang, deiner Liebe zu den Büchern. (Lagnes, 11.8.)

Flusswanderung den Largue aufwärts. Die Flusskrebse. Die Flusskieselschönheit. Die betäubende Kälte des milde türkisgrünen Wassers.

Der Lautsprecherwagen fährt wieder durchs Dorf! – am Steuer ein Dicker mit Fluppe im Mundwinkel, ein Mikro in der Hand. Was ruft er da? Was ruft er da aus? Der beste Zirkus der Welt ist endlich zu Gast!

Auf die Sainte-Victoire gewandert – ein erfüllter Lebenstraum. Auf dem Pfad hinauf durch die Gestrüppe steht ein Maler. Ein Handke-Imitator mit Geheimratsecken, Gamsbart und grauem Haar bis zu den Schultern blickt in die Ferne, mit roten Ballerinas an den Füßen. Du kannst oben, nach zwei Stunden Bergaufwanderung, an der Saint-Ser-Kapelle die Glocke läuten.

In einer Schublade des Kräuterschränkchens lauter alte Schneckenhäuser, Würfel und Murmeln – für ein Schneckenrennen? Wann fand es statt? Vielleicht letzte Nacht. Vielleicht ist es das Spielzeug der lieben Geister, die hier ebenso wohnen.

Das Kind schreit wie eine Katze – nein schreit, wie noch keine Katze je schrie. (Volx, 20.8.)