Über Tränen sprechen

„Du hörst auf, oder du wirst tapeziert“, sagte ich zu dem schreienden Tier, das mir die Ruhe raubte. Aber das Tier greinte, als gäbe es mich nicht, und es hatte recht.

Slogan: „Sehen – Kritzeln – Kunsthalle.“

„Wollen Sie mit mir über Tränen sprechen?“ Jacques Derrida

Erst heute erfahren, Mitte April in diesem Totenjahr: Am 26. Februar ist der wundervolle Übersetzer und Literaturvermittler Karl Dedecius gestorben. Durch ihn habe ich die Gedichte Tadeusz Ròżewiczs kennengelernt, und plötzlich, wenig später, wahrlich ein „Beginn der Lichtung“, Gennadij Ajgi – tektonische Plattenverschiebungen meines poetischen Verständnisses. Wie merklich sich mein ganzes Gemüt beim Lesen von Dedecius‘ Übertragungen neu ausrichtete! (12.4.)

„Ich bin ich selbst da, wo ich mich nicht mehr hinter einem objektiven Standpunkt zurückziehe, den ich lediglich repräsentiere – da, wo weder ich selbst noch die Existenz eines andern mehr Objekt für mich werden kann“, schreibt Karl Jaspers und schrammt damit entlang am Problem der Unwirklichkeit. Man – ich? Ja, jetzt – vergleiche mit diesem verzweifelten Festhalten an der Ich-Konstruktion Keats‘ Entwurf von der Dichterexistenz: Für ihn ist sie ich-los.

„In der Bindung des Menschen an sein Leben gibt es etwas, das ist stärker als alles Elend der Welt.“ Albert Camus

Ich erinnere mich, wie erlöst und zugleich erleichtert ich war, als ich vor 25 Jahren begann, John Keats‘ Briefe zu lesen: „Der Genius der Dichtung muss seine Erlösung in einem Menschen selbst erwirken. Er kann nicht reifen durch Regel und Maxime, sondern nur in sich selbst durch Empfindung und Achtsamkeit – was schöpferisch ist, muss sich selbst erschaffen.“

Der Wunsch, tot zu sein, ist er nicht schon der Anfang vom Sterben?

Nein, dieses Werk hier ist keine Maschinerie. Es fügt sich nicht ein. Weder funktioniert es noch lässt es sich funktionalisieren. Es wirft nichts ab. Kein Zweck, kein Nutzen! Hier wird niemand unterhalten. Spaß ist in diesem Werk ohne jede Bedeutung. Hier sind Fehler willkommen, und der Zweifel ist sein Antrieb. Leisten Sie sich etwas anderes. Gehen Sie weiter. Lesen Sie, was sie wollen, aber nicht, was ich hier für nichts fabriziere als das Gedächtnis, das sich zu verschwinden anschickt.