Traumamatura

Auf dem Gelände des abgerissenen Krankenhauses, in dem ich zur Welt kam, entsteht ein Neubau – Luxusappartements mit Seeblick –, und das Schwimmbad, in dem ich schwimmen lernte, war jahrelang Ruine, ehe es ebenfalls verschwand. Tegernsee, Bad Tölz. Am Mauerwerk einer heutigen Boutique die vermoosten Schatten des alten Schriftzugs HIRSCHWIRT. Die Gebäude der auf drei Ortschaften verteilten VOLKSSCHULE, die ich als „Bub“ besuchte, stehen noch, wirken klein wie miniaturisiert, entfremdet, modernisiert, aus dem Vergangenen herausgehoben. Die Dinge helfen, die Zeit entschwinden zu sehen, helfen gegen den Groll und die Bitternis. Die Luft, die Gerüche, die Vogelstimmen unverändert. Das warme Abendlicht. Die die Bergkämme einhüllenden Wolken. Die Singvogeldichte und das ewige Gekrächz der Dohlen und Krähen. In einigen Gesichtern erkenne ich Schulkameraden wieder. Der liebliche Verfall. Die schöne Enge. (Rottach-Egern, 14.7.)

Schreib ein Gedicht: „Traumamatura“

In der Dämmerung der Garten des Hauses, in dem mein Großvater starb. Da steht der Schuppen noch, dicht an der Hecke, wo es so dunkel roch. Habe ich damals schon gewusst, dass ich als Mann mit Kindern einmal hier stehen würde, um mich wiederzusehen?

Aus dem Nebel tauchen die Bergkühe auf wie Geister mit Glocken und haben zarte Wimpern.

Wenn die Erinnerungen sich überlagern, die Rekonstruktionsversuche einander widersprechen, ist die Zeit des Abschieds gekommen. Da ist niemand mehr, anhand dessen Erinnern du dich deines eigenen versichern könntest, und das Interesse an deinen Erzählungen ist schmal, begrenzt, verflüchtigt sich rasch, es zeigt nur, wie dringend du abschließen solltest mit deinem Gestern, um noch einmal im Heute anzukommen.

Schreib ein Gedicht: „Petersburger Hängung“

Alle, alle geliebten Dinge aus deinen Kindertagen tauchen in unwesentlich veränderter Gestalt später in deinem Leben wieder auf – nichts kann verschwinden, es ändert nur den Ort, wie Proust sagt: „alles, was wir in uns haben, verlagert sich anderswohin, ohne zu verschwinden.“ Wohin aber „verlagert“ es sich? Auf dem Vorplatz des früheren Gasthofs deiner Großeltern ergreift dich angesichts der Kleinheit der Dinge und des unverändert wiedererkennbaren Rauschens der hinter dem Haus vorbeifließenden Mangfall die alte schwermütige Beklemmung. Diese Orte sind ihre Wurzelgründe. Diese Orte – die Gasthoftür, den Schuppen im Garten, den Sportplatz im Schaftlacher Forst, das o-förmige Wäldchen – habe ich überall in Ähnlichem wiederzufinden versucht. Er ist eine Sucht, dieser bittersüße unweigerliche Schmerz. (Elmau, 16.7.)

Gondeln im Nebel. Schwimmen in den Wipfeln.

Das Kind legt mir die Tarotkarten und scheint alles von mir zu wissen.