Platzwechsel
Ich schick dir den grauen Himmel,
den du mir geliehen hattest,
hiermit zurück. Aus Zlín.
Wo ich bin, steht die Luft.
Die Hitze ist ein Herzstillstand,
und das Gras überlegt ernsthaft,
zu brennen. Beendet ein Freund,
beendet er eine Freundschaft,
ohne Gründe zu nennen?
Offenbar. Das Gras plant
augenscheinlich wirklich,
in Flammen aufzugehen.
Wohin ist der Mensch, der
die letzten Tage immer schlief
im Schatten des Altglascontainers.
Ich fahre über die Dřevnice und
bin ein anderer. Sie lacht grün,
sie funkelt. Sie und ich in Zlín.
Im Netz finde ich eine Seite mit englischen Übersetzungen, Nachdichtungen und Fortschreibungen von fünf Gedichten Jan Skácels. Vier davon habe ich in Reiner Kunzes Übersetzung gelesen im Band „Fährgeld für Charon“. Die Nachdichtung stammt von Jerome Rothenberg, dem 2024 verstorbenen Ethnopoeten, Dichter und Herausgeber, eine Art US-amerikanischer Hubert Fichte.
All that Remains of Angels
Morning,
trees still bandaged
all the rest untouched,
between two poplars
half asleep in flight
a levitating angel
Through cracks in sleep
he sings
The first one on the street
he whom that song would wound
may stand there half suspecting
yet never catching a glimpse
A greenness
all that remains
of those angels
Die Übertragung ins Deutsche von Reiner Kunze lautet:
Was vom Engel übrigblieb
Frühmorgens,
alle bäume sind noch eingebunden
und die dinge unberührt,
erhebt sich zwischen zwei pappeln der engel,
schläft im fluge aus.
In den rissen des schlafes singt er.
Wer als erster die gasse betritt,
verwundet wird von diesem gesang,
vielleicht ahnt er etwas,
aber er sieht es nicht.
Es ist grün,
und das ist alles, was vom engel übrigblieb.
An meinem Dřevnice-Ufer schreitet im schwarzen Abendkleid eine Hochschwangere allein dahin. Ein wundersamer Anblick. Über den Himmel flog unterm Mond durch eine Krähe, das musste etwas bedeuten. Tat’s aber nicht. Ich bin zu alt für Omen. Auch für Kinder allmählich. Für Flüsse noch nicht, und Krähen kenne ich viele.
Eine erste Übertragung von Skácels schönem, in seiner Kürze und Fülle berückenden und sofort unvergesslichen Gedicht:
Was von einem Engel bleibt
Morgens,
Bäume unter sich, alles sonst unberührt,
schwebt zwischen zwei Pappeln
im Halbschlaf so dahin
irgendein Engel.
Durch Risse im Schlaf singt er.
Dem Ersten auf der Straße
wird der Singsang wehtun,
vielleicht ahnt er etwas
aber sieht es nicht.
Ein Grün –
alles, was von einem Engel bleibt.
Im tschechischen Original lautet Jan Skácels Gedicht von 1960:
Co zbylo z anděla
Ráno,
pokud jsou všechny stromy ještě obvázané
a věci nedotknuty,
mezi dvěma topoly anděl se vznáší,
v letu dospává.
V trhlinách spánku zpívá.
Kdo první na ulici vyjde,
tím zpěvem raněn bývá,
snad něco tuší,
ale nezahlédne.
Je zeleno —
a to je vše, co zbylo z anděla.
Ein junger Mann, vermutlich Zlíner, geht kurz vor Mitternacht unter dem Balkon vorüber, er telefoniert offenbar mit seiner Liebsten. Ich höre sie seufzen, als er ihr etwas Gutes oder sogar Schönes sagt, vielleicht über das Foto aus der Umkleidekabine, das sie ihm heute Nachmittag geschickt hat, auf jeden Fall spürt sie seine Wertschätzung und hält sie für Liebe, ja, so muss es sein.
Abgesehen von der schönen Wacholderdrossel, die am Bachufer im schattigen Laub saß, habe ich heute mit niemandem Bekanntschaft geschlossen.
Immer wieder, so kommt es mir zumindest vor, lese ich bei Jan Skácel von dem Fluss mit dem schönen Namen March. Erst seit heute weiß ich, dass die March auf Tschechisch Morava heißt und somit Mähren den Namen gibt, Moravia. Aber ich stochere hier nur so in der March herum. Oder werde es demnächst tun, denn heute fand ich außerdem heraus, dass die March oder Morava unweit von Zlín vorbeifließt an Otrokovice. Die Dřevnice mündet dort in die March.
Standen eigentlich 1968 sowjetische Panzer auch auf den Plätzen in Zlín?