Die Eidechsen

Durch den Weinberg steigen die jungen Lesehelfer in ihren Tarnanzügen. Gegenüber der Baustellenkran – höher als der Weinberg – piept markdurchdringend bei jeder Bewegung. Während der Nebel in die Bergwälder fährt. (Vahrn / Varna, Südtirol, 7.6.)

Eine Versammlung von Verzweifelten und Geltungsbedürftigen, von Trinkern, Trinkerinnen, von Clowns und Liebessüchtigen – ein Spiegel ist der Literaturbetrieb, zersplittert, zerdeppert, und du weißt dort so gut wie jeder andere, dass du nirgendwo besser aufgehoben wärst als in dieser leeren Fülle.

Die von Vogelgeneration zu -generation stets aufs Neue vergessene Gier der Sperlinge, die Spatzensucht. Die wir ihnen lachend Jahr für Jahr neu aufhalsen.

OMD – Organisation

Die Lesungen in den Stiftsälen und -bibliotheken werden alle übertönt von den Gesängen der Vögel, die in den Baumkronen und auf den Dächern rings um die Jahrhunderte alten Gebäude sitzen. Oswald von Wolkenstein saß hier in der Sonne, aß Trauben und wunderte sich über die Laute, zu denen Elstern in der Lage sind. Als würden sie ihrerseits lesen, uns vorlesen aus ihren Amsel- und Meisenbüchern, den Schwalbengedichten, den Essays der Tauben über die Kirschenreife, den Reportagen der Rotkehlchen über die Düfte der Apfelbaumreihen im Regen. (Novocella, 9. Juni)

„Hat man erst der Sonne ein Leck geschlagen, kann man sicher sein, daß sie untergeht.“ Christian Saalberg

Wider Erwarten, ein wenig auch wider Willen und allein aufgrund des unerwartet in den Sinn gekommenen Namens – „DA!“ – das Hotel wiederentdeckt, in dem du 1974 ein paar Sommertage verbracht hast – das „Temlhof“ oberhalb von Brixen. Im Hotelgarten stehst du wie in einem überraschend in aller Überdeutlichkeit wiedergekehrten Traum. Du erkennst alles wieder, sodass die Zweifel abplatzen von der Unwirklichkeitsverkapselung. Hier warst du, hier bist du. Nicht: Ich denke, also bin ich. Sondern: Ich war hier, also bin ich. Der Ort kennt dich, und er weiß: Du bist am Leben. Du hast bessere Zeugen als deine Erinnerungen: Kaum dass du sie erwähnst – ihr Fehlen –, tauchen sie auf aus den Mauerritzen der Hotelwand: die Eidechsen, die es seinerzeit ebenso in Hülle und Fülle gab und die ein Wunder waren, wenn ein Schwanz abbrach und zuckend liegenblieb auf deinem Handteller, während das Tier die Zeit deiner Verwunderung nutzte, um zu entkommen. Ja, die Eidechsen. Sie schwören, dass du schon hier warst.

Saalberg in Aachen

Wir sind hinauf unter die Vogelausgucke in den
Linden und Kastanien gestiegen, seine Gedichte

und ich, unter die Säulen, ins Säulengelände
auf dem Lousberg, der seinen Namen womöglich

einem französischen König verdankt oder einer
Frau Lou, der einer ein Stück Aachen schenkte.

Seine Gedichte gingen mit mir durch das Blinken.
Linder Julinachmittag. Die Leute staunten jeder

winzigen Windbö nach und riefen: „So ein Tag!“
Einer, der den Tod nicht nötig hat als Spiegel,

so voller Leben, dass immer wieder momentlang
alles gut war. Alles meine ich, wie es hier steht

in diesem Gedicht, das fast von ihm sein könnte,
was durchaus Absicht ist. Unter Amselschimpfen

am Lousberg in Aachen las ich lauter Kindern vor.
Die Fröhlichkeit wehrt sich. Wir geben niemals auf.

Die Fortsetzung von 42

Dass ich Mäntel trage, seit ich der Fuchtel meiner Eltern entronnen bin, Mäntel zu allen Jahreszeiten außer in der Hochsommerhitze – alte Regenmäntel früher, Heermäntel früher, Marinemäntel früher, Ledermäntel, Wildledermäntel, Trenchcoats zumeist und sie noch immer – was sagt das aus, sagt es etwas aus? Es war nie bewusste Abgrenzung. Es fiel mir nicht mal auf bis heute, dieses Absonderungsmerkmal. Nur habe ich mich auf Dauer nie zu Jacken bekennen können! Und andere Mantelträger möchte ich bisweilen grüßen, so wie Motorradfahrer sich in der Zeit vor der umfassenden Ichsucht gegrüßt haben, indem sie aufeinander zu und aneinander vorbei brausten, um dann noch länger über die gerade erlebte Begegnung nachzudenken. Bis zur nächsten vielleicht. Schöne Maschine war das! Schöner Mantel war das! (23.5.18)

Ihr Zahnarzt, Ihr Wohlfühlerlebnis!

Mitten auf dem freien Feld im Sonnenschein liegt eine Kuh. Die schläft. Die ist nicht tot.

„Und mit der Sanftheit einer Lyra haucht der Wind / Lachen her aus dem Garten, wo die Kinder sind.“ Victor Hugo

Eine Frau auf der Straße fragt: „Sind Sie für die Fortsetzung von 42?“ Auf mein verdutztes Gesicht hin erläutert sie: „Meinen Sie, es sollte ein Follow-up von 42 geben?“ – „Vielleicht“, antworte ich aus reiner Hilflosigkeit. „Vielleicht 43?“ (Eppendorf, 1.6.)

„Was uns gerettet hat, war der schöne September“, sagt im Radio die Winzerin.

Mann geht vorbei, durchs Licht des frühen Juni. DEATH ÜBER ALLES steht auf seinem Rücken.

Drüben – auf der Straßenseite gegenüber dem Küchenfenster – wird die einzige Bäckerei im Viertel geschlossen, nach 49 Jahren, die es den Laden gab. (Wochenlang bleiben Tag für Tag die Leute vor dem von innen abgeklebten Schaufenster stehen, lugen durch die Spalte ins Dunkel des ausgeweideten Verkaufsraums, rütteln sogar an der Tür.) Die Bäckerei, über dessen Fenster das Wort BÄCKEREI steht, war ebenso lange geöffnet und verkaufte Brot und Kuchen, meist leider faden Kuchen, wie vor meinem Küchenfenster die alte Laterne gestanden hat, die vor einigen Monaten ausgetauscht, noch auf der Straße zersägt und dann abtransportiert wurde wie eine Tote, wie eine gefällte und entastete Tanne. Sollte es eine Verbindung zwischen der Laterne und der Bäckerei gegeben haben? Waren sie ein Paar? (Barmbek, 6.6.)

Alle Orte verschwinden

Der Wind über der Meuse, als ihr durch den Abend heimgeht zu eurem Lütticher Hotel. Du denkst fortwährend an den Schnee, den Schnee im Reim aus Brels Chanson „Il neige sur Liège“, während der Autor, der hier einen Preis überreicht bekommt, beständig „Liesch“ sagt zu der Stadt, die sich modern gibt und aufregend, wo aber dieselben, nein ganz ähnliche, nein genauso gleich gemachte Leute durch die Straßen streifen wie überall sonst. Ein Jammer aus Glas und Stahl und Hochglanz. (Lüttich / Liège, 15.5.)

The Go-Betweens – Tallulah

„Als ihr noch Sterne wart …“, sagt der Vater zu den Kindern, und eines fällt ihm ins Wort: „Als ich noch ein Stern war, lag ich hinten im Auto auf den Sitzen, da hab ich euch vorne im Auto reden gehört, und da hab ich am Himmel tief in der Nacht die Sterne gesehen, wie sie geleuchtet haben.“

Der Nachbar, den du seit Jahren für einen Kretin hältst, sitzt dir gegenüber im Bus und liest in den Memoiren von Tennessee Williams.

Alle Orte verschwinden. Weil das zu einem Ort dazugehört: unterzugehen? Platz zu schaffen für einen anderen, den nächsten Ort?

Entdecken Sie Ihre Gesichtsmaskenmöglichkeiten!