Archiv für den Monat Juni 2021
Der Sommer mit Strindberg
Als ich Strindberg las, waren alle Bäume
anders. Umschlossen von glasigem Licht,
wirkte jeder beschützt. Er verwahrte sich.
Nachmittage lang lief ich mit den Hunden
über die Felder und an Waldrändern hin,
Hohlwege, durch die ich träumend ging,
und immer Überraschung: Wolkenbruch;
offene Scheune; verschwundenes Moos.
Die Hunde waren beide schwarz, liebten
einander, rangelten, lösten jedes Rätsel
verschieden. Sie kannten alle stärkeren
Äste auswendig, und was sie rochen, ja
war ein Zeichen: Minutenlang sahen sie
gedankenversunken in die Baumkronen.
Strindberg rief einmal einem Kritiker zu:
„Warten Sie, bis ich mit Ihnen abrechne
in meinem nächsten Stück!“ Das hab ich
nicht vergessen können. Die Kastanien,
dachte ich, sie sind Strindbergkastanien,
aus einem glasigen Licht, das dir etwas
zu sagen hat. Nur was? Dieselbe Frage
stand oft den zwei Rumtreibern im Blick.
Einmal, es war ein schwüler Mittag Mitte
August, jagte uns ein Schwarm Bremsen
die Felderraine entlang, und da segelten
aus dem abgestorbenen Zaubergezweig
einer Eiche dunkel wie drei Pfeilschatten
drei Schwalben, und sie fingen alle weg.
Alles kann geschehen, alles ist möglich
und wahrscheinlich, schreibt Strindberg,
Personen spalten sich, verdoppeln sich,
vertreten einander, sie gehen in Luft auf,
verdichten sich, zerfließen und fügen sich
erneut zusammen. In Ein Traumspiel ruft
Indras Tochter wieder und wieder, es sei
schade um die Menschen, und das ist es,
was ich seit dem Sommer mit Strindberg
glaube: Es ist um uns Menschen schade.
Frühstück im Steinzeitpark
In der Hose, die aufs Bett fliegt, siehst du für einen Augenblick noch dich.
Genesis – Nursery Cryme
Du glaubst ja gar nicht, wie schnell du allein bist auf dieser Welt – jede Kuh, jede Elster, jede Birke im Regen weiß es besser und kann dir davon erzählen. (15.12.)
Erzählt mir, was ihr wollt: In den Gesichtern der Fiesen sieht man ihre Fiesheit. Ich bin gern bereit, ihre Gemeinheit, ihren Stumpfsinn, ihre Gewaltbereitschaft und ihren Egoismus zurückzuführen auf ihre schlimme Kindheit, auf traumatische Erfahrungen und meinetwegen Herabwürdigungen. Trotzdem sind sie gemein, eklig und einfach lachhaft. Die armen Ungeheuer! Sollen sie lesen!
Genesis – The lamb lies down on Broadway
In jedem Buch, das du liest, unterbrichst und an anderem Ort weiterliest, sind das Licht und die Landschaft vor der Unterbrechung darin aufgespeichert. Ich lese – nach viereinhalb Monaten – Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ weiter und sehe die Terrasse in Volx vor mir, ich stehe rauchend unter dem Feigenbaum und höre die Glocken und im Haus Auréliens hellblonde Stimme aufrufen: „L’angelus!“
Ein Mann mit seiner Frau oder Schwester oder Cousine bleibt vor dem Haus stehen und bestaunt das Gerüst. „Keine freie Fläche!“, ruft er begeistert. „Nur Fenster!“ – In einem stehe ich.
Schreib ein Gedicht: „Frühstück im Steinzeitpark“
Schreib ein Gedicht: „Unterschiedliche Vorstellungen von einem Tag in Deauville“
Wie der junge Nachbar seinen jungen Hund, so führe ich das Buch spazieren, das ich übersetze – im Wind und im Regen. (11.1.)
Sie ist der leibhaftige Eklamativ.
Der Junge packt seinen ersten eigenen Computer aus, er ist himmelblau.
Ein guter Job wäre es, dazwischen zu sein. Zwischen den Diskursen, den Erfordernissen, dem Notwendigen und Nutzreichem. Zwischen Politik und Psychologischem. Soziologischem. Glaziologischem. Zwischen denen, die täglich zu den Leuten gehen, und denen, die täglich über die schreiben, die täglich zu den Leuten und gehen, und die besser mehr über die Leute schrieben und sich unterhielten mit ihnen. Zwischen denen. Muss man es erwähnen, dass Poesie Bindegewebe ist?
Unfälle
Neueste Maßnahmen
Erneut nach Erich Fried
Die Faulen werden wiederbelebt.
Fleißig genug ist die Welt!
Die Hässlichen werden wiederbelebt.
Die Welt ist schön genug!
Die Narren werden wiederbelebt.
Weise genug ist die Welt!
Die Kranken werden wiederbelebt.
Die Welt ist gesund genug!
Die Traurigen werden wiederbelebt.
Lustig genug ist die Welt!
Die Alten werden wiederbelebt.
Die Welt ist jung genug!
Die Feinde werden wiederbelebt.
Freundlich genug ist die Welt!
Die Bösen werden wiederbelebt.
Die Welt ist gut genug!
*
Ein grauer Tag im Paradies
Der wirklichste Morgen, den ich je erlebt habe, war ein Morgen im Herbst 1980, als ich in Taunton, Somerset, zusammen mit meinem Austauschschüler Rodney zur Schule fuhr. Es war klirrend kalt, die Straßen wie ausgestorben, alles unter Raureif, und wir auf zwei klapprigen Rädern johlten bibbernd, schlotternd und waren selig vor Freude aneinander und an der jungen Welt.
An einer sonnigen Straßenecke irgendwo in Amerika saß ich mit meiner verstorbenen Großmutter und unterhielt mich mit ihr so innig wie eh und je vor ihrem Tod. Sie habe mir zu berichten, sagte sie mit ihrem widerspenstigen Chemnitzer Sächsisch, dass mein Bruder gestorben, dass er „nübergerufen“ worden und sie nur gekommen sei, um ihn abzuholen.
Kaum dass du dir die Haare hast schneiden lassen, spürst du wieder den Wind.
Arbouretum – Let it all in
Sein größter Wunsch, sagt das Kind, sei ein Sommer mit Schnee. Ich erzähle von einer Reise nach Mallorca, neun Jahre, bevor das Kind zur Welt kam, und dass es da auf einmal aus dem blauen Himmel regnete – mir bis heute unbegreiflich. „Wieso?“, fragt das Kind. „Die Wolken sind bestimmt blau gewesen.“
Ein grauer Tag im Paradies.
Das Gegenteil von Vergessen sind die Vögel.
Depeche Mode – Violator
„Der Junge trinkt Milch / und schläft geborgen in seiner Zelle, / eine Mutter aus Stein.“ Tomas Tranströmer, aus „Gefängnis“, Neun Haikus aus dem Jugendgefängnis Hällby (1959)
In der Dunkelheit der kleine Park an der Kirche, in dem man dich am Vormittag fotografiert hat, die schwarzen Büsche, die dunklen Umrisse der vor zehn Stunden noch gelbgoldenen Kastanie.
The Sea and Cake – Everybody
Als das Fenster dunkel blieb, hinter dem sonst nachts immer der Fernseher lief, warst du plötzlich ganz allein – nein, da war plötzlich in einem anderen Fenster Licht!