Port Douglas

„I’m waiting for an answer that’s not coming, / I’m running in a race that’s not worth running.“

Nachtwindböen im Innenhof, über die Dünen kommen sie und schlagen in die Palmen. Auf jeden Windstreich antwortet ein unsichtbarer Vogel mit laut klagendem und zugleich freudigem Geschrei. (Port Douglas, 4.5.)

Wolken, die stundenlang stillstehen über dem Korallenmeer. Sie tragen die Langsamkeit in ihrer Gestalt, sind weiß und schwarz umrahmt. Gehst du unter ihnen hindurch, so verbergen sie ihr Volumen nicht. Jede ist, was Dylan Thomas vom Radio sagte, „a building in the air“.

Die grüne Meeresschildkröte im Riffwasser, beinahe so groß wie ich, mit den Augen Gottes, ob sie weiß, dass ich sie beobachte?

Am Straßenrand überall dottergelbe Warnschilder vor Känguru- und Kasuarwildwechsel, doch nirgends zwischen den Autohändlern, Hungry-Jack’s-Drive-ins, Surfausrüstern und der Eiscreme-Fabrik nur ein einziger Laufvogel, ein einziges an einem Zuckerrohrfeld entlangspringendes Wallabee. (Cairns, 5.5.)

Immer unvermittelt, wie ein bunter Blitz, stürzt ein seltsamer Vogel vorbei.

So rot wie die Erde: die von der prallen Wucht der Sonne gerötete Haut vieler Australierinnen.

Im Grunde musst du es halten wie die Kinder: losschreien auf der Stelle, wie aus dem Herzen herausschallend, sobald dir etwas nicht passt (das Hemd des Lebens, die Hose des Alltags) oder gegen den Strich geht (anstatt für den Strich, auf den Strich, unter den Strich). Nicht böse, nicht drohend, aber losplärren, klagen, heulen, jammern, auch brüllen, vor allem brüllen: ICH WILL DIE WELT ANDERS!

Räume in Sydney

„Mobile Speed Cameras. Anytime. Anywhere.“

Vom „gap between fact and feeling“ spricht man in den nach Patschouli riechenden Räumen von Greenpeace Australia Pacific, von der „integrity of facts“. Während der Uni-Professor mit dem haarsträubenden Mundgeruch das „Anthropozän“ ausruft.

„Bitte achten Sie auf die Umwelt, bevor Sie diese E-Mail ausdrucken.“ – Ja, also blicke ich zuvor aus dem Fenster?

Sydney, a jigsaw.

Jeder Raum ist auch ein sexueller, ein möglicher Raum, ein unmöglicher. (Sydney, 30.4.)

Headsets

Achtzigjähriges Kind – der Zeichner auf der Bühne, der traurig seine Lieblingsmusik vorstellt: die Beatles und Mozart. Er spricht von der vergangenen Welt, die still war. Von einem frühen Morgen vor seinem Ferienhaus bei Adelaide und wie er dort den Vögeln in den Bäumen zuhörte, einer Sinfonie. Er sei, sagt er und lacht einmal, auf einem Ohr taub – eine Erleichterung. (Newport, Victoria, 24.4.)

„Wir können das Vergangene nicht kontrollieren. Es birgt genauso viele Geheimnisse wie die Zukunft.“ Adam Zagajewski

„Ich liebe das Leben“, sagt ein älterer Pole zu mir, „ich liebe die Luft, liebe das Licht, die See, die Sonne, die Liebe, ich liebe die Frauen und ihre Haut und ihr Lachen und Zürnen. Ich liebe die Kinder und die Tiere, nicht alle, aber viele. Ich liebe im Grunde alles, was es gibt. Und wenn ich tot bin, werde ich es lieben, tot zu sein.“

„A new phase of its identity“ steht auf einem Plakat in der Unterführung der alten Flinders Street Station von Melbourne. Dort spielt ein Junge im T-Shirt in den durch den Tunnel brechenden Aprilherbstböen auf seinem Cello eine Suite von Bach. (28.4.)

„Headsets!“ – „Headsets!“ – wie ein seltsam seinen einzigen Ton von sich gebender Vogel – „Headsets!“ – „Headsets!“ – geht die Flugbegleiterin durch die Sitzreihen der Qantas-Maschine. „Headsets!“ – „Headsets!“

„Every museum does failure.“ – „So let’s install a museum of failure.“ – „Amuse an Ophelia?“

Trost

Programmtitel, wahrhaftig: „Going nowhere“

Nur anhand von Erzählungen, Geschichten von Erlebnissen und Vorstellungen Einzelner, sei es ihr möglich, sich einen Begriff zu machen von etwas so Umfassendem, etwas so Unfassbarem wie dem Klimawandel, sagt im Melbourner Haus der Kunst, dem alten Meat Market, eine junge Wahlaustralierin, eine us-amerikanische Autorin, die an einem Roman über Atlantis schreibt. In Mississippi habe sie vor einiger Zeit eine Taxifahrerin kennengelernt, die ihr erzählte, sie lege alles mögliche Geld beiseite, damit sie mit ihrer Familie nach Florida ziehen könne. Ein Haus am Strand würden sie und ihr Mann für sich und die Kinder dort kaufen wollen, damit sie unter den ersten seien, die von der großen Flut hinaus aufs Meer und nach Atlantis gespült würden.

Es ist zwecklos, träumen zu wollen, wenn du nicht schlafen kannst.

Jeder Trost ist einmalig. Immer wieder auf dieselbe Weise trostreich ist es, Gedichte zu lesen.

Aufwachen in Melbourne

Das ist also Melbourne: am Morgen
   getaucht in ein Hellblau, das herab-,
auf die Dächer heruntergefallen scheint.
   Kräne, Blätter hochwirbelnde Straßen-
bahnen. Vorbeirauschen kahle Platanen.
   Und Gottes Atemwolken ziehen nord-
wärts nach Wagga Wagga.
                                             Die längsten
   denkbaren Finger öffnen das Schließ-
fach des Himmels, bis es taghell wird,
   so schnell, dass du erschrickst Ecke-
Swanston-und-Franklin. Rede nicht nur,
   bloß um dich umzudrehen und wegzu-
gehen. Sprich mit ihr.
                                    Sie ist ein Regen,
   die Welt, und liebt die fünf Sinne. Über-
schwemmt dich. Ist zartfühlend, ist schroff
   oder Buschfeuer. Sie kommt durch die-
ses Fenster, in deine Augen, mit allem
   Licht erwartet sie dich an deinem aller-
ersten Aprilherbstmorgen in Melbourne.

Für Emma Lew

Eine Telefonzelle in Abu Dhabi

Flog über Budapest, Bukarest, Ankara, Beirut, Bagdad, Kuwait und Bahrain hinweg bis Abu Dhabi. In der Dunkelheit auf dem Wüstenrollfeld schwamm das Kerosin in der 30 Grad heißen Luft. Fünfzehn Minuten später stand ich zusammengepfercht mit zwanzig Arabern und Australiern in einer Raucherkabine, kaum größer als eine Telefonzelle (die es nicht mehr gibt) oder ein besonders kleines Haltestellenhäuschen (die es wahrscheinlich inzwischen auch nicht mehr gibt).

Das schöne Licht am ersten Morgen über Melbourne: als sollte der ganze Süden der Welt einzig hellblau sein. Ich sah noch keinen Vogel, hörte aber die ganze Nacht lang das Gezwitscher einer Klimaanlage vom Dach des Nachbarwohnturms, ganz so als würde dort ein Wellensittichschwarm ausruhen. Ein laut anschwellendes Windmühlflügelschlagen war plötzlich zu hören, vielleicht ein Traum, dann aber kam eine Feuerwehrsirene durch die Straßenschluchten gerauscht. Anderthalb Tage lang flog ich um die halbe Welt, von Abu Dhabi weiter über Sri Lanka und den Indischen Ozean hinweg, vorbei an Perth und Adelaide. Aufzuwachen in solchem Licht … aus der Unwirklichkeit in deinem Leben einmal so erwachen. Aus dem Frühling flog ich in den Herbst. Unterwegs, wo war da Sommer? (Melbourne, Therry Street, 23. April 2014)