Auf den Hecken wildes Schimmern,
Raureif. Und die Sternen gehen unter,
gehen wandern und leuchten auf fernen
Bahnen, den Zeilen am Himmel. Fasane.
Greif hörte ihr Rufen, aber bei Gryphius
verstecken sie sich zwischen Bildern.
Archiv für den Monat Februar 2016
Die gefrorenen Laken
„The people we met in the last five years / will we remember them in ten more?“ Death Cab for Cutie
Die allmähliche Verfertigung der Erinnerungen beim Schreiben – das Fehmarnbuch.
„Silvester ist mittelmäßig“, sagt das Kind, „weil es da so viele Tote gibt!“ (31.12.)
Einen Abend und eine Nacht lang lief er durch die Stadt mit dem neuen Hemd und fühlte sich sonderbar gehalten darin, aufrecht, gelassen, gestützt und unangreifbar glücklich – bis er am Morgen den von einem Pappstreifen verstärkten Plastikkragen bemerkte, den sie zu entfernen vergessen haben musste, als die Freundin ihm das neue Hemd ausgepackt, angezogen und mit vorsichtigen Fingern zugeknöpft hatte.
Der Kommentierpark!
Deutlich gehört: In der Abenddämmerung dringt lautes Wehklagen vom Friedhof herüber.
Gesichtsreparatur: Eine Stunde lang lässt du dir die hypertrophen Äderchen auf Nase und Stirn veröden. Der Laser brennt sich ein unter die Haut, und mehr und mehr kommst du dir gefotoshoppt vor unter der weißen Schutzbrille. Die Ärztin meint ja, du seiest ein besonders hartnäckiger Fall, aber bald schon würdest selbst du wieder wie früher aussehen, wie ein Kind!
Aus der Kälte unterm Dach kommt mir die Nachbarin entgegen, vor Bauch und Brust wie Styroporplatten die zusammengefalteten gefrorenen Laken.
Meine Blume!
Du stehst in deinem Leben wie ein Schwan im Fernsehen.
Slogan: „Geben Sie Ihren Notizbüchern Namen!“
Wahrscheinlich folgt jedes Gespräch einer Art von offenen Partitur. Nie könnte man das unter Beweis stellen.
Ich werde alles den Gänsen erzählen.
Manchmal denkst du, dein Hund ist gestorben, ja, aber er ist jetzt zwei Katzen.
Ein Junge im Muskelshirt geht vorbei, nackte Arme, nackte Schultern, 20. Dezember.
„Eine alte Baumgruppe kann ich immer aufs neue beschreiben, aber wenn ich einmal merke, daß mein Beschreiben nichts Entdeckendes mehr hat, interessiert mich auch die Baumgruppe nicht mehr.“ Jürgen Becker
„He? Wohin ist meine Blume verschwunden?“, fragt das Kind und erhält zur Antwort, dass sie verblüht war und deshalb weggeworfen wurde. „Meine Blume!“, ruft das Kind empört, als könnte es die Blume damit zurückholen. „Meine Blume!“ (22.12.)
Sehr eng zusammengefalteter Mantel
„Für das farbige Bild gilt nicht die Eigenfarbe der Dinge. Sie ändert sich mit ihrer Beleuchtung und Nachbarschaft anders gefärbter Dinge.“ Ernst Ludwig Kirchner
Und noch einmal Kirchner, über Fehmarn: „Ich male so viel wie möglich, um wenigstens etwas von den tausend Dingen, die ich malen möchte, mitzuschleppen.“
Eine Amerikanerin, wahrscheinlich aus Wyoming, im Bus: „The only thing we managed to eat was like a salad.“ (Berlin-Dahlem, 12.12.)
„Man hat kein Maß mehr, für nichts, seit das Menschenleben nicht mehr das Maß ist“, schreibt Canetti und benennt damit, vor über 70 Jahren, den Beginn unseres heutigen Dilemmas: die Maßlosigkeit der Deutschen.
Selbst einen wie Kirchner, den wilden Ernst, stelle ich mir vor als jemanden, der schlafen konnte – plötzlich, früh am Abend, noch in Kleidern, auf der kleinen abgewetzten Liege mitten im Steglitzer Atelier.
„Wir sind ernster als die Tiere“, schreibt Canetti. „Was wissen die Tiere vom Tod!“ Ja, hätte Canetti sich das mal gefragt: Was wissen die Tiere vom Tod? „Und welches ist die Erbsünde der Tiere?“, fragt er. „Warum erleiden die Tiere den Tod?“ Sie erleiden ihn nicht. Wer Tiere sterben sieht (nicht die Millionen, die täglich getötet werden, um uns zum Fraß zu gereichen), weiß augenblicks, dass das Tier stets ist, was es ist, noch im Sterben, ja noch im Tod. Es fügt sich nicht, sondern setzt dem Tod sein Wesen entgegen.
Großmutter, Oem, nahm die Wörter „Tod“ und „tot“ nicht in den Mund. Sie sprach von „de dood“ und „doud“, mitten in hochdeutschen Sätzen.
Jeder Geruch an deinen Fingern … zehn Stunden, und weg ist er, nur noch Erinnerung. Woran du dich erinnerst, ist es dasselbe, was du wiedererleben willst?
Schreib ein Gedicht mit dem Titel „Wirklich in Wyoming“, obwohl du dort nie warst, nein weil du dort nie warst. Das Gras in Wyoming. Die Hunde in Wyoming. Die Bäume in Wyoming. Die Kinder von Wyoming. Die Frauen von Wyoming. Du, du in Wyoming, du fragst dich, ob es Wyoming wirklich gibt.
Am Postschalter steht ein Mann mit einem kleinen Paket, das ihm soeben der Postler ausgehändigt hat. „,Mantel‘ steht darauf“, sagt der Mann. Und der Postangestellte: „Sehr eng zusammengefalteter Mantel.“ (Fuhlsbüttel, 18.12.)
Ein Gebüsch
Bianchon
Warum das Kind in der Schule keine 2 schreibt: „Die Zweien sind ausgestorben.“
Sätze und Verse gibt es, die verfolgen, nein begleiten mich seit Jahrzehnten, damals herbeigeflogen und nie wieder fortgezogen: „Wieder in den Wicken erwacht, / am Morgen …“, „Abendsommerland, / die Mücken spielen …“, oder, seltsamer Ohrwurm: „I’m a poet, I’m a tumbler“. Ich weiß es aus eigener Erfahrung: Meine Sprache ist klüger als ich.
In Worpswede, der ganze Kunsthandwerk- und Kitschzirkus kann die so erregende wie erschütternde Schönheit vieler Bilder von Overbeck, Vogeler, Mackensen, Modersohn-Becker und anderen, zu Unrecht heute Vergessenen nicht kaputtkriegen.
Angeblich Balzacs letzte Worte: „Huit jours avec la fièvre! J’aurais encore eu le temps d’écrire un livre. Ah oui! … je sais. Il me faudrait Bianchon … Bianchon me sauverait lui!“ Horace Bianchon ist eine Gestalt Balzacs aus zwei Romanen der „Comédie humaine“: „Acht Tage Fieber! Da hätte ich ja noch ein Buch schreiben können. Ja! … ich hab’s. Ich bräuchte Bianchon … Bianchon würde mich retten!“
Du glaubst also, es gibt sie, die Schuld? Seit vielen Jahren frage ich mich, ob Schuld nicht eine Leerstelle ist, um die wir herumrennen, um sie einzukreisen und zu rufen: „Du bist schuld!“ oder „Ich bin schuld, ich!“ Bin ich’s? Bist du’s? Wer, wenn keiner von uns? Darauf bleib ich eine Antwort schuldig.
Das schöne englische Wort „lacuna“, die Lücke, aber die wirkmächtige. Das Nichts im Tag, in der Welt, die Lücke als integraler Bestandteil, das stützende Manko.
Der Klippengarten
Ein junger Arzt sagt achtlos
deiner Tochter, die erschrickt:
„Der Tod seiner Frau, laut Akte
ist das kein halbes Jahr her.
Ein Glück, er erinnert sich
an nichts, weiß davon nichts.“
Aber wer weiß schon, hm,
was du spürst, was du
verstehst und welche
Bilder dir als wilde
Möwen um die Augen
segeln? Der Augensommer,
die Kirschbäume, die Wolken,
so weiß wie Krankenschwestern
im Klippengarten bei La grève blanche.
Natürlich, alle müssen wir sterben, solange
keiner den Tod in Frage stellt. Jede Liebe
ist ein Anker, und dein Körper, Claude,
weit oben auf der Oberfläche
der schwarze Rumpf,
treibt dort und dreht sich,
als wäre Wind aufgekommen.
Aber sieh doch das Erschrecken.
Diese Frau, die weiterlebt, weißt du,
das ist nicht deine, sie ist zur Hälfte
aber aus dir, deine Tochter ist sie,
und sobald du davontreibst,
hält sie alle davon ab,
dich aufzuhalten.